Heute bin ich den Tag über bei unseren alten Schwestern im Altenheim zum Einkehrtag. Ich bin immer beeindruckt, mit welcher Sammlung und Wissbegierde diese alten Schwestern dann kommen und sich vorfreuen auf neue und andere Gedanken, auf Gebete und Anstöße zum Nachdenken. Diesmal geht es in unseren Überlegungen um das schöne Wort des heiligen Franziskus von Assisi, der immer davon spricht, dass Christus für uns am Wegrand geboren worden ist.
Was bedeutet das eigentlich? Viele von uns erinnern sich vielleicht noch an Religionsunterricht und viele Predigten von früher, in denen es immer darum ging, die eigenen Fehler und Sünden und Schwächen zu erkennen und dann sie zu bekämpfen und auszureißen und auf dem Pfad der Tugenden hinaufzusteigen zu Gott. Aber das wäre ja eigentlich nur Selbstoptimierung, wie es heute so schön heißt. Dann wäre Erlösung durch die Menschwerdung Jesu nicht notwendig geworden, weil wir es ja alle allein schaffen können.
Der heilige Franz von Assisi hat erkannt, dass Jesus in seiner Menschwerdung die ganze gebrochene Wirklichkeit unseres Menschseins angenommen hat. Er ist arm geworden, um uns in unserer Armut begegnen zu können. Unser Ort der Gottesbegegnung und der Menschwerdung liegt deshalb in unserer Armut und in unserer Gebrochenheit. Weil Gott sie angenommen hat, dürfen auch wir sie annehmen und in sein Licht bringen, damit er sie wandeln kann. Eigentlich ist es keine Frage, die Liebe Gottes bricht herein tagtäglich und klopft an unsere Herzen an. Ob sie Einzug halten darf in unser Leben und ob sie Hand und Fuß bekommen darf in unserem Tun?
Die Frage ist nur, ob wir ihr immer Raum geben wollen, ob wir bereit sind, uns von ihr über unsere engen Grenzen hinaus verlocken zu lassen. Ob wir bereit sind, Versöhnung zu wagen, das Aufrechnen zu lassen, auch dem schwierigen Mitmenschen ein Ansehen zu schenken. Jedes Mal, wenn wir es schaffen, der Liebe Gottes in unserem Herzen und Tun Raum zu geben, findet in unserem Leben und in unserem Umfeld die Menschwerdung Gottes statt. Wir bringen ihn durch ein liebendes, aufmerksames Tun in die Welt. Die ganze Welt wartet sehnsuchtsvoll auf Bruder und Schwester Mensch, die sich zu Mitliebenden mit Gott haben wandeln lassen.
Schwester Katharina Hartleib