DOMRADIO.DE: Bei all dem, was wir in den letzten Monaten und Jahren an Meldungen über Missbrauch und andere Missstände in der Kirche gehört haben, warum vertrauen Sie da noch in Ihre Kirche?
Stefan Vesper (Theologe und ehemaliger Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken): Weil die Kirche für mich eine Heimat ist. Weil ich in ihr als junger Mensch viel gelernt habe. Weil ich Sätze zum ersten Mal gehört habe wie: "Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln" oder: "Meine Seele preist die Größe des Herrn" und anderes. Die Kirche ist eine Heimat für viele. Und die Kirche hat sehr viele gute Seiten. Aber heute ist es ganz wichtig, diese schlimmen Dinge aufzuarbeiten. Die Kirche ist seit langem dran. Wir müssen da weitermachen.
DOMRADIO.DE: Ganz schnell kommt in der Missbrauchsdebatte ja auch die Frage nach systematischen Ursachen auf. Es heißt immer wieder, fast alle Würdenträger würden das Ansehen der Kirche über das Leid der Opfer stellen. Gleiches wirft das Münchner Gutachten auch dem emeritierten Papst Benedikt vor. Wie kann man da noch Respekt vor den Würdenträgern haben, wenn mehr oder weniger klar wird, dass viele von ihnen ihren eigenen Ansprüchen alles andere als gerecht geworden sind?
Vesper: Alles muss aufgeklärt werden, allen Dingen muss nachgegangen werden und wir müssen konsequente Aufklärung verbreiten. Insofern ist es, so schlimm wie Gutachten in der Sache sind, sehr wichtig, dass jedes einzelne Gutachten erstellt wird und die Dinge aufgearbeitet werden - in jedem Bistum, in unserer Kirche im ganzen Land und in der Weltkirche. Viele Länder stehen noch vor der Erkenntnis, dass es bei ihnen sexuellen Missbrauch gab. Das muss alles aufgeklärt werden und wird auch noch eine Zeit lang dauern. Aber es gibt viele Priester, Bischöfe, Ordensleute, Laien, die in dieser Kirche Gutes tun im ganzen Land. Und davor dürfen wir die Augen nicht verschließen.
DOMRADIO.DE: Zum großen Teil geht es bei diesen Gutachten um Fälle vergangener Jahrzehnte. Schnell kommt da das Argument: Das ist heute nicht mehr so. Aber kann man das wirklich so sagen? Also kann man sich so einfach von der Verantwortung reinwaschen?
Vesper: Nein, man kann sich nicht von Verantwortung reinwaschen, aber man kann schauen, ob heute neue Regelungen gelten. Da geht es um den Blick der Institution weg von sich selbst auf die Betroffenen. Und ich glaube, dass hier eine entscheidende Wendung geschehen ist in den Köpfen der Mächtigen, aber auch der ganzen Kirche. Es werden nicht mehr so viele Augen zugemacht werden wie vor Jahrzehnten.
DOMRADIO.DE: Sie sagen schon, die Aufarbeitung muss jetzt im Mittelpunkt stehen. Aber diese Aufarbeitung sorgt ja auch immer wieder für neue Konflikte. Ob es um die Beauftragung für Gutachten geht, Anerkennungsleistungen, Prävention. Bekommt die Kirche das als Institution noch hin?
Vesper: Die große Möglichkeit und auch Notwendigkeit, nach Reformen zu suchen, ist der Synodale Weg. Man soll auch gerade heute nicht vergessen, dass Kardinal Marx ein Anstoßer und Impulsgeber für den Synodalen Weg war, auf dem wir uns jetzt befinden. Der Synodale Weg ist in einer Phase, wo Entscheidungen fallen. Wir treffen uns in zwei oder drei Wochen zur nächsten Synodalversammlung und die Sache wird jetzt langsam ernst. Das merkt man auch, dass einige nervös werden, die keine Reformen wollen.
Aber die große Mehrheit von Bischöfen und Laien im Synodalen Weg will, dass wir Reformen in unserer Kirche umsetzen, um wieder mehr Glaubwürdigkeit zu erzielen im Land. Diese Zahl - 12 Prozent Glaubwürdigkeit - ist ja verheerend. Da dreht ja keiner dran. Die Forsa-Umfrage zeigt einen verheerenden Mangel an Vertrauen in uns als Institution. Und das darf einfach nicht so bleiben.
DOMRADIO.DE: Es gibt aber ja gegen den Synodalen Weg auch Gegenwind, auch aus dem Vatikan. Glauben Sie trotzdem, dass der Synodale Weg ewas ändern kann?
Vesper: Wenn Sie den Synodalen Weg nehmen, in dem ich mich auch engagiere als einfacher Synodaler - da kommt es mir manchmal so vor wie lange Halbzeitpause beim Länderspiel. Wenn auf den Rängen dann gesagt wird: "Das kann nichts mehr geben, wir werden sowieso verlieren." Und die anderen sagen: "Jetzt muss aber der Müller reinkommen." Und der Dritte sagt: "Die Abwehr ist völlig chaotisch organisiert." Das kann man beim Länderspiel mal eine Viertelstunde lang so machen. Aber man kann es doch nicht über Wochen und Monate beim Synodalen Weg so machen, dass immer der eine sagt: "Das wird sowieso nix geben." Und der andere sagt: "Hoffentlich bleibt die deutsche Kirche in der Weltkirche."
Das ist alles aus meiner Sicht relativ überflüssig, dieses Gerede. Gespielt wird auf dem Platz und die Synodalversammlungen sind die Orte, wo Entscheidungen fallen. Die nächste Synodalversammlung ist Anfang Februar, dann haben wir eine im September und dann noch eine im nächsten Jahr. Und dann muss es Entscheidungen geben in dieser Kirche, die künftigen Missbrauch definitiv verhindern und die versuchen, ein wenig Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen.
Das Interview führte Julia Reck.