Diese Zahl schockiert: In 118 Fällen soll ein ehemaliger katholischer Pfarrer aus dem Erzbistum Köln minderjährige Mädchen missbraucht haben. Neun heute erwachsene Frauen sind mutmaßlich betroffen. Der frühere Seelsorger in Gummersbach und Wuppertal soll die Taten zwischen 1993 und 2018 begangen haben.
Seit November muss sich der 70-Jährige vor dem Landgericht Köln verantworten. Seine drei Nichten sowie eine weitere Frau werfen ihm Missbrauch in 33 Fällen vor. Am Mittwoch bezog das Gericht weitere 85 Fälle gegen den Geistlichen ins laufende Verfahren ein, die erst während des Prozesses bekannt geworden waren.
"Ein Teil unserer Familie"
Rund 60 dieser Fälle betreffen ein einziges mutmaßliches Opfer, das in diesem Text Julia heißen soll. Ihre Leidensgeschichte beginnt laut Staatsanwaltschaft etwa 2011. Zu diesem Zeitpunkt ist U. seit mehreren Jahren ein Freund ihrer Eltern. Julias Vater hatte den Seelsorger während eines Krankenhausaufenthalts kennengelernt, wie ihre Mutter vor Gericht aussagte. "Der war irgendwann wie so ein Teil unserer Familie", erzählte sie.
Der Mutter zufolge verbrachte U. bereitwillig Zeit mit Julia und ihrer zwei Jahre älteren Schwester. Er sprang auch bei der Betreuung ein, wenn die Eltern arbeiten mussten. Ihrem Eindruck nach hätten die Mädchen den Priester gemocht. Regelmäßig hätten die Kinder bei U., der in einer anderen Stadt lebte, übernachtet. Die Familie habe ihn auch in ihr Haus eingeladen, wo er ein Gästezimmer gehabt habe.
Nachts habe sie manchmal Julias "Schrittchen auf der Treppe" gehört, erzählte die Mutter. Ob ihre Tochter bei U. geschlafen habe, wisse sie jedoch nicht.
Übergriffe rund sieben Jahre lang
Am Mittwoch wurde dann offenbar, was im Haus des Priesters und im Gästezimmer der Familie passiert sein könnte: Seitdem Julia neun Jahre alt war, soll U. sie sexuell missbraucht haben. Mehrfach soll es zu Oral- und Geschlechtsverkehr gekommen sein. Erst ab Julias 16. Geburtstag enden die mutmaßlichen Übergriffe.
Laut Staatsanwaltschaft legte U. dem Mädchen gegenüber ein "äußerst manipulatives Verhalten" an den Tag. Als sie 13 Jahre alt war, habe der Geistliche mit der Familie eine Art "Therapievereinbarung" geschlossen. Demnach sollte Julia ein Wochenende pro Monat bei ihm übernachten, um an ihrem pubertären "Jähzorn" zu arbeiten.
Auch Julias Schwester wirft U. sexuellen Missbrauch vor. Bei ihr geht es um fünf Fälle. Ihre Anwältin gab vor Gericht bekannt, Schmerzensgeld zu beantragen. Ihre Mandantin leide unter Albträumen und verfalle immer wieder in eine Schockstarre. U. habe sich als ihr Patenonkel ausgegeben und sich in Wahrheit ihr und ihrer Schwester sexuell nähern wollen. Heute erscheine es ihr so, als habe der Geistliche sie und ihre Familie manipuliert – etwa mit teuren Ausflügen in Freizeitparks oder großzügigen Geschenken wie einem Smartphone.
Kaum Regung des Angeklagten
Einige der mutmaßlichen Betroffenen saßen am Mittwoch im Gerichtssaal. U. wurde erneut in Handschellen zu dem Termin gebracht. Seit Ende Januar sitzt er in Untersuchungshaft. Da sich die neuen Vorwürfe auch auf die jüngere Vergangenheit beziehen, sah Richter Christoph Kaufmann Wiederholungsgefahr. Der Geistliche selbst zeigte während des Prozesses kaum Regung.
In dem Verfahren sagten auch Kirchenvertreter wie der heutige Hamburger Erzbischof Stefan Heße sowie der ehemals oberste Kölner Kirchenrichter Günter Assenmacher als Zeugen aus. Sie hatten in den Jahren 2010 und 2011 mit U. zu tun, als eine erste Anzeige gegen den Priester vorlag – also etwa zu jener Zeit, als Julias mutmaßliche Leidensgeschichte begann.
Kritik des Richters am Erzbistum Köln
Nachdem die Anzeige gegen U. zurückgezogen wurde, unternahm auch das Erzbistum Köln keine weiteren Schritte in der Sache. Der zwischenzeitlich beurlaubte Priester durfte wieder als Krankenhausseelsorger arbeiten. Vor allem Kirchenrichter Assenmacher wies vor Gericht von sich, für weitergehende Recherchen zuständig gewesen zu sein. Dabei hätte das Erzbistum mit "wenig Engagement" viel über U. herausbringen können, entgegnete Kaufmann.
Auch Julias Familie erfuhr 2010 von der Anzeige - und zwar von U. selbst. Als "erstunken und erlogen" habe er die Anschuldigungen dargestellt, so Julias Mutter. Sie und ihr Mann hätten dem Geistlichen vertraut und ihn damals sogar bei sich aufgenommen, weil "es ihm so schlecht ging". Heute wolle sie mit U. nichts mehr zu tun haben. Das Urteil wird um den 24. Februar gesprochen.