DOMRADIO.DE: Was für Nachrichten erreichen Sie aus den Gebieten der Ostukraine?
Oliver Müller (Leiter von Caritas international): Schon in den letzten Wochen haben uns extrem schlechte Nachrichten erreicht, weil die Menschen in der Konfliktzone bereits in der Vergangenheit mit dem Rücken zur Wand standen. Und der Beschuss hat in den letzten Wochen noch mal bedeutend zugenommen.
Uns haben Bilder von zerstörten Kindergärten und Wohnhäusern erreicht. Allein in der vergangenen Woche hatten eine Million Menschen keine Wasserversorgung, weil zwei Pumpstationen in der Region Donezk bombardiert worden waren. Die Menschen werden auf eine harte Probe gestellt und es ist gar nicht auszudenken, was passiert, wenn sich die Fronten jetzt weiter verhärten.
DOMRADIO.DE: Es herrscht ja schon seit acht Jahren Krieg im Osten der Ukraine. Wie viele Menschen sind denn schon von kriegerischen Handlungen betroffen?
Müller: Rund 1,5 Millionen Menschen sind in der Folge der damaligen Auseinandersetzungen hauptsächlich in der Ukraine zu Binnenvertriebenen geworden und mussten irgendwo in dem großen Land eine neue Heimat finden. Das ist eine sehr, sehr große Zahl.
Viele, vor allem russischstämmige Menschen, sind auch nach Russland geflohen und wenige, aber immerhin noch ein paar Millionen sind in der sogenannten Pufferzone geblieben und harren dort aus.
Dort sind die Lebensverhältnisse extrem schlecht, weil die Häuser zum Teil zerstört sind, weil die Wirtschaft zusammengebrochen ist. Die Gesundheitsversorgung ist ein Desaster. Es sind vor allem ältere Menschen, kranke Menschen, kinderreiche Familien, die schlichtweg von dort nicht weggehen konnten, weil sie keinen anderen Ort haben.
Unsere große Befürchtung ist, dass sich deren Lebenssituation jetzt noch weiter verschlechtern wird.
DOMRADIO.DE: Wie setzt sich Caritas international denn jetzt schon für diese Menschen ein?
Müller: Wir haben in den letzten Jahren verschiedene große Hilfsprogramme aufgebaut und führen sie bis jetzt durch. Zum einen sind das fünf Sozialzentren für die Inlandsvertriebenen, die zum Teil sehr nah an dieser Pufferzone sind wie in Mariupol zum Beispiel, direkt an der Linie. Dort konnten Menschen hinkommen und materielle Hilfe bekommen, etwas zu essen bekommen aber auch psychologische Beratung erhalten.
Unserem Partner, der Caritas Ukraine, ist es aber auch gelungen und gelang es bis in die letzten Tage, mit ihren lokalen Mitarbeitenden direkt in die Pufferzone vorzudringen, auch über die Kontaktlinie in den von Separatisten besetzten Teil zu gehen und dort humanitäre Hilfe zu leisten.
Das ist nicht ungefährlich. Das geht nur mit Schutzkleidung, also Helm und und Splitterschutzweste. Das ist heute aktuell nicht mehr möglich. Aber wir wissen und hoffen, dass es hoffentlich bald wieder geht, weil die Hilfe mehr als benötigt wird.
DOMRADIO.DE: Sie haben von lokalen Helfern gesprochen. Sind denn auch noch Helfer aus Deutschland in der Ukraine im Einsatz?
Müller: Wir haben eine Kollegin und einen Kollegen, die in der Ukraine im Bereich der Koordinierung der Hilfen tätig sind. Wir sind jetzt aber der Empfehlung der Bundesregierung gefolgt und beide haben das Land jetzt erst mal verlassen. Wir hoffen aber, dass sie sehr bald zurückkehren.
Da aber Hunderte von lokalen ukrainischen Caritashelfern weiter im Dienst sind, ist das jetzt erst einmal nicht allzu schlimm. Die werden weiterhin den Menschen vor Ort auch beistehen können.
DOMRADIO.DE: Caritas international unterstützt ja auch Flüchtlinge auf russischer Seite. Was wird denn jetzt aus denen?
Müller: Das ist schwer zu sagen. Auch dort gibt es, Gott sei Dank, kirchliche Strukturen, eine Caritas, die auch dort, wenn auch in bescheidenerem Umfang als in der Ukraine, Flüchtlinge unterstützen konnte.
Die Berichte, die uns jetzt von dort erreichen, besagen, dass in Städten wie Rostow am Don Menschen von den Separatisten, beziehungsweise wohl unterstützt von der russischen Regierung, aus den Konfliktregionen gebracht werden. Es ist aber wohl so, dass auch deren Unterbringungsmöglichkeiten begrenzt sind, dass sie wieder in andere Orte weiter verbracht werden.
Es ist schwer zu sagen, was das bedeutet. Aber es ist unübersehbar, dass es vor allem für die Kinder eine enorm belastende Situation ist. Also für Kinder, die in den letzten Jahren in einer Umgebung aufgewachsen sind, in der zum Beispiel Landminen eine riesige Bedrohung darstellen, in der es jeden Tag zum Beschuss kam und in der man immer wieder in der Ferne das Grollen der schweren Waffen hörte. Das ermöglicht kein normales Aufwachsen.
DOMRADIO.DE: Im Moment weiß man noch nicht, wie sich die politische Lage entwickelt. Mit welchen Szenarien planen Sie denn, um Ihre Hilfsangebote aufrechtzuerhalten?
Müller: Wir haben bereits seit Wochen Maßnahmen ergriffen, dass möglichst alle Caritasstellen in der Ukraine wie auch die, die von der Pufferzone weiter weg sind, in die Lage versetzt werden, schnell Hilfen für mögliche Vertriebene auf die Beine zu stellen.
Das ist das Szenario, von dem wir ausgehen. Wir erwarten, dass es zu Fluchtbewegungen infolge von weiter fortschreitenden Kämpfen kommt, möglicherweise auch in das Staatsgebiet der Ukraine hinein. Das würde zu vielen geflüchteten Menschen führen. Diese zu versorgen ist eine Aufgabe der Caritas.
Gleichwohl hoffen und beten wir natürlich, dass es dazu nicht kommt. Das wäre eine humanitäre Katastrophe. Wir setzen uns dafür ein und fordern auch, dass der humanitäre Zugang zu den Menschen, die jetzt in der Pufferzone direkt betroffen sind, auch weiterhin aufrechterhalten wird.
Wir haben die große Befürchtung, dass die Konfliktparteien die Caritas, die Helfer nicht mehr durchlassen. Das wäre für die betroffenen Menschen eine Katastrophe.
Das Interview führte Heike Sicconi.