Ist es mit dem Grundgesetz vereinbar, wenn Strafgefangene für ihre Arbeit Stundenlöhne bekommen, die kaum mehr als einen Euro betragen? Zwei Tage lang befasste sich das Bundesverfassungsgericht in einer mündlichen Verhandlung mit dem Thema. Vor allem damit, welche Bedeutung dem Faktor Arbeit für die Resozialisierung zukommt, wie und ob Arbeit als sinnvoll erfahren werden kann. Die Nachfragen der acht Richter des Zweiten Senats lassen den Schluss zu, dass der Gesetzgeber über eine Neuordnung nachdenken sollte.
Deutlich wurde, dass es bei der Gefangenenarbeit nicht allein um Geld gehen kann. Der zentrale Begriff der Verhandlung lautete "Anerkennung" für Geleistetes. Und die kann nicht nur über Barauszahlungen zum Ausdruck gebracht werden. Auch etwas verkürzte Haftzeiten oder - wie in Hessen praktiziert - eine Verringerung der Summe, die ein Gefangener später für die Kosten seines Strafprozesses an den Staat zurückzahlen muss, sind Möglichkeiten, Wertschätzung zu zeigen.
Wiedervorlage des Themas
Schon einmal hatte sich Karlsruhe mit der Frage befasst. Das war 1998, und schon vor einem Vierteljahrhundert gehörte der inzwischen emeritierte Göttinger Kriminologe Jörg-Martin Jehle zu den Experten, die das Gericht befragte. Seitdem habe sich "nicht viel" getan, sagte Jehle. Immer noch gebe es für Menschen, die eine Haftstrafe von unter einem Jahr abzuleisten haben, fast keine Chance zum Arbeiten. Dabei macht diese Gruppe etwa die Hälfte derjenigen aus, die eine Strafe verbüßen.
Jehle würdigte positive Aspekte der Arbeit: Bei sozialen Beziehungen in die Arbeitswelt gelinge später die Resozialisierung besser, denn oft hätten Inhaftierte eine gebrochene Erwerbsbiografie, wenig oder keine Ausbildung und häufig Drogenprobleme. Im Gefängnis helfe Arbeit außerdem, den Tag zu strukturieren.
Thema "nicht sexy"
So ganz genau konnte aber keiner der Wissenschaftler beantworten, welchen Stellenwert Arbeit für Gefangene wirklich hat. Es fehlt schlicht an Studien. Für Forscher sei das Thema "nicht sexy", so Jehle.
Thomas Bliesener, ebenfalls aus Göttingen und dort Professor für Interdisziplinäre kriminologische Forschung, berichtete über internationale Untersuchungen: Demnach verüben arbeitende Gefangene im sehr deutlich geringeren Maße Übergriffe auf Vollzugsbeamte. Eine Beschäftigung erhöhe auch die Wahrscheinlichkeit, nach der Entlassung selbst seinen Lebensunterhalt erwirtschaften zu können.
Doris König, die dem Zweiten Senat vorsteht, stellte die Frage, wie es bei der geringen Bezahlung einem Inhaftierten möglich sein soll, Unterhaltspflichten nachzukommen und Wiedergutmachung für die Opfer der Straftat zu leisten.
Verfassungsrecht und Rechtspolitik
Die Verhandlung entwickelte sich auch nach Königs Wahrnehmung an vielen Stellen zu einer Diskussion, die zwischen Verfassungsrecht auf der einen und grundsätzlichen rechtspolitischen Fragen auf der anderen Seite pendelte - obwohl für das Letztere der Gesetzgeber und nicht das Gericht zuständig ist.
Manuel Matzke von der "Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation" (GG/BO) verlangte für seine Mitglieder den gesetzlichen Mindestlohn. Er nannte die Haftanstalten "Sonderwirtschaftszonen", in denen Unternehmen und Staat "Hand in Hand Gefangene ausbeuten".
Zahl der Firmen überschaubar
Tatsächlich ist es indes so, dass schon jetzt die Zahl der Firmen überschaubar ist, die ihre Produkte mit Hilfe Inhaftierter herstellen lassen. Würde es für sie besser, wenn Mindestlohn gezahlt werden müsste? Für die Zeit in der Haft vermutlich nicht, weil dann beispielsweise mehr Geld für die Haftkosten sowie Beiträge für Renten- und Krankenversicherung abgezogen werden könnten. Aber könnte das nicht sinnvoll sein, um später Altersarmut lindern zu helfen?
Anlass der Verhandlung waren Verfassungsbeschwerden aus Bayern und NRW. In Bayern liegt der Stundenlohn bei mindestens 1,33 Euro, in NRW bei rund 1,70 Euro. Karlsruhe wird in den nächsten Monaten entscheiden müssen, ob und wie das aus dem Grundgesetz abgeleitete Resozialisierungsgebot mit den Bestimmungen zu vereinbaren ist. Und welche Maßstäbe für die Anerkennung von Arbeit eine Rolle spielen können. Denn es blieb letztlich offen, was genau eine leistungsgerechte Anerkennung Inhaftierter bedeutet.