Pro-Life-Aktivisten in USA wittern große Wende

Amerika vor dem Abtreibungsverbot?

Seit der Entwurf eines obersten US-Richters zur Begründung eines neuen Grundsatzurteils bekannt wurde, erwarten Abtreibungsgegner die große Wende. Die Mobilisierung gegen das liberale Gesetz von 1973 läuft auf Hochtouren.

Autor/in:
Bernd Tenhage
Pro-Life-Demonstranten mit gelben Schirmen beim March for Life in Washington (Archiv) / © Tyler Orsburn/CNS photo (KNA)
Pro-Life-Demonstranten mit gelben Schirmen beim March for Life in Washington (Archiv) / © Tyler Orsburn/CNS photo ( KNA )

Kristan Hawkins mobilisiert und demonstriert schon seit ihren Highschool-Tagen gegen das geltende Abtreibungsrecht in den USA. Mit 36 Jahren steht sie immer noch den "Students for Life Action" vor, eine der aktivsten Organisationen im Biotop der amerikanischen Pro-Life-Bewegung.

Sie teilt die Euphorie, die sich seit dem Durchsickern der mutmaßlichen 5:4-Mehrheit im obersten Gericht für das Ende des seit 1973 geltenden Grundsatzurteils "Roe vs. Wade" breit gemacht hat. Damals hatte es Abtreibungen bis zur Lebensfähigkeit des Fötus, etwa bis zur 24. Schwangerschaftswoche, zur Privatsache erklärt.

Zeitenwende für Pro-Life-Aktivisten

"Das ist ein ganz neues Spiel", sagt die junge Frau, die vergangenes Jahr samt Familie in ein Wohnmobil umzog, um landesweit für Abtreibungsbeschränkungen zu werben. Für Hawkins und die breite Allianz der Pro-Life-Aktivisten hat eine Zeitenwende begonnen. "Es wird nicht mehr so sein wie früher, als wir darauf warteten, dass ein paar ältere Herren in Washington endlich handeln."

Auslöser der Jubelstimmung unter den "Pro-Lifern" ist der an die Medien geleakte Entwurf einer Begründung für das erwartete Urteil zum Abtreibungsgesetz in Mississippi. Seitdem scheinen die Tage von "Roe vs. Wade" gezählt. Denn das oberste Gericht scheint kein Problem damit zu haben, dass die Frist, innerhalb derer Frauen alleine über ihre Schwangerschaft entscheiden können, von 24 auf 15 Wochen verkürzt wird.

Grundsatzurteil spaltet die US-Gesellschaft

Das Grundsatzurteil spaltet seit fast 50 Jahren die US-Gesellschaft. Doch nie zuvor gab es am Supreme Court eine Mehrheit, die "Roe vs. Wade" ernsthaft in Frage gestellt hätte. Was Abtreibungsgegner lange verbitterte, weil sie der Meinung sind, das Gericht habe zahlreiche Gelegenheiten verpasst, das darauf gründende Gesetz zu kassieren. Tatsächlich hatte das neunköpfige Richterkollegium wiederholt Möglichkeiten ignoriert, die Fristen enger zu fassen.

Donald Trump änderte den Status quo mit der Nominierung dreier erzkonservativer Richter, die allesamt zu erkennen gegeben hatten, dass "Roe vs. Wade" fallen könnte, wenn sie auf dem Richterstuhl sitzen. Seitdem dominieren von Republikanern ernannte Richter den Supreme Court mit 6 zu 3 Stimmen.

Mit dem von Richter Samuel Alito verfassten Entwurf verkehrt sich die Schlachten-Aufstellung im Kulturkampf um die Abtreibung um 180 Grad. In Erwartung dieser Neuausrichtung beeilten sich die republikanischen Bundesstaaten mit der Verabschiedung strenger Abtreibungsgesetze. Das restriktivste kommt aus Texas und schreibt vor, dass nach sechs Wochen Schwangerschaft Abbrüche verboten sind.

"Herzschlag"-Gesetz von Texas

Das sogenannte "Herzschlag"-Gesetz von Texas ist für Abtreibungsgegner wie Hawkins der Goldstandard. Das unterstreicht auch deren Verbündete Marjorie Dannenfelser, die als Präsidentin der Anti-Abtreibungsbewegung "Susan B. Anthony List" das Ziel teilt, der Vorlage aus Texas auf nationaler Ebene Geltung zu verschaffen. Dafür arbeiten die Pro-Life-Aktivisten an einer gemeinsamen Strategie mit den Republikanern.

Dannenfelser und Hawkins drängen darauf, bei den Zwischenwahlen im November mit dem Thema in die Offensive zu gehen. Sie verweisen auf den hohen Mobilisierungsfaktor an der republikanischen Basis, deren Wähler laut jüngster Pew-Umfrage zu einem Drittel hinter dem Texas-Gesetz stehen. Besondere Aufmerksamkeit soll den zehn "Swing-States" mit vielen Wechselwählern gewidmet werden, die auch bei den Präsidentschaftswahlen 2024 entscheidend sein dürften.

Thema bei den Zwischenwahlen

Die Pro-Life-Lobbyisten schrieben nach dem Durchstechen des Alito-Entwurfs unzählige E-Mails an republikanische Kongressabgeordnete, um die nächsten Schritte zu koordinieren. "Die Quintessenz ist, dass das Recht auf Leben nicht zur demokratischen Abstimmung stehen sollte", so die Gründerin der Anti-Abtreibungsgruppe "Live Action", Lila Rose. Falls der Supreme Court Mississippi erlaubt, Schwangerschaftsabbrüche nach der 15. Woche zu verbieten, wäre dies nur ein Zwischenschritt. Das Gesetz habe seinen Zweck erfüllt "und uns dorthin geführt, wo wir heute stehen".

An diesem Punkt stimmen die Verteidiger von "Roe vs. Wade" mit den Abtreibungsgegnern überein. Die Aussicht auf ein nationales Abtreibungsverbot sei "erschreckend", so die Direktorin von "Planned Parenthood Action", Kelley Robinson. Auch sie hält das Thema für eine starke Motivation bei den Zwischenwahlen. Der Supreme Court-Entwurf sei ein "Weckruf", sagt auch die Präsidentin von "NARAL Pro-Choice America", Mini Timmaraju. Und Rachel O'Leary Carmona von der Frauenorganisation "Women's March" erwartet "eine große Gegenreaktion".

US-Grundsatzurteil zu Abtreibung "Roe gegen Wade"

Im Grundsatzurteil "Roe gegen Wade" (Roe versus Wade) entschied der Oberste Gerichtshof der USA am 22. Januar 1973, dass staatliche Gesetze, die Abtreibungen verbieten, gegen die Verfassung der Vereinigten Staaten verstoßen. Seither sind in den meisten US-Bundesstaaten Abtreibungen nahezu uneingeschränkt möglich.

Oberstes US-Gericht kippt liberales Abtreibungsrecht / © Steve Helber/AP (dpa)
Oberstes US-Gericht kippt liberales Abtreibungsrecht / © Steve Helber/AP ( dpa )
Quelle:
KNA
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