DOMRADIO.DE: Über eine als "Judensau" bezeichnete Schmähplastik an der Stadtkirche Wittenberg in Sachsen-Anhalt wird am Bundesgerichtshof in Karlsruhe verhandelt. Ein Kläger will, dass das antijüdische Sandsteinrelief aus dem 13. Jahrhundert entfernt wird. In den Vorinstanzen war der Jude gescheitert. Das lag unter anderem daran, dass seit Jahren eine Erklärtafel in der Nähe der Abbildung auf den Kontext hinweist. Worum geht es für Sie als Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit bei dem Verfahren?
Prof. Dr. Jürgen Wilhelm (Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V.): Uns in Köln ist das Thema bestens vertraut. Es gibt im Kölner Dom auch eine sogenannte "Judensau". Und es gibt weitere antijüdische - heute würde man hier und da auch sagen antisemitische - Darstellungen im Kölner Dom. Wir sind mit dem Domkapitel seit vielen Jahren darüber im Gespräch und haben einige Ergebnisse dieser Gespräche schon in die Tat umgesetzt.
Deshalb kennen wir das Thema sehr gut. Wir haben allerdings weitestgehend Einvernehmen herstellen können, weil in diesen Gesprächskreisen Vertreter der Synagogengemeinde, der christlichen Kirchen und unserer Gesellschaft Mitglied sind.
DOMRADIO.DE: Wie kann man sich denn bei einer derart zweifelhaften Darstellung einer "Judensau" einigen?
Wilhelm: In Wittenberg mag das alles drastischer sein. Im Kölner Dom ist die Brutalität und auch die Perversion dieser Darstellung, jedenfalls was die "Judensau" angeht, nicht sofort für Jedermann erkennbar. Deshalb mag es sein, dass wir das Thema bisher ohne die Gerichte angegangen sind. Vielleicht liegt das aber auch an der rheinischen Gelassenheit. Es hat von Anfang an ein Verständnis des Domkapitels gegeben, dass man etwas tun muss, dass man das nicht weiter unkommentiert lassen darf. Dann haben wir zwei bis drei Jahre diskutiert, was gemacht werden kann.
Wir haben uns einvernehmlich mit allen Beteiligten, die ich eben schon aufgezählt habe, darauf verständigt, in Köln keinen Bildersturm zu veranlassen oder für richtig zu halten. Ja, diese klaren Antworten sind leichter vermittelbar. Und ich verstehe auch, wenn jüdische Menschen sagen: "Also, Ihr mit euren Kompromissen und Belehrungen. Hängt die Dinger zu, sägt sie raus oder hängt sie ab." Klar, für einfache Lösungen findet man immer Beifall.
Wir haben uns für den etwas komplizierteren Weg, aber, wie ich finde, deutlich nachhaltigeren Weg entschieden. Wir haben Informationen herausgelegt, wir haben die Domführer geschult und gezielt darauf hingewiesen, dass sie das Thema ansprechen sollen - und nicht nur wenn es gefragt wird, sondern dass es ein ständiges Thema bei den Domführungen sein soll. Also, ein Bündel von Maßnahmen wurde aufgesetzt.
DOMRADIO.DE: Nochmal zurück zum Wittenberger Fall. Kläger ist eine jüdische Gemeinde. Beklagte ist eine evangelische Gemeinde. Spaltet das Verfahren oder birgt es auch Chancen?
Wilhelm: Das müssen die Beteiligten vor Ort wissen. Wittenberg ist die Lutherstadt. Die Darstellung im Wittenberger Dom scheint tatsächlich besonders drastisch und auch beleidigend zu sein. Da kann ich schon verstehen, dass sich die jüdische Gemeinde dagegen wehrt und auflehnt.
Mir ist auch nicht so recht verständlich, warum aus einer besonderen Konnotation heraus sich die evangelische Kirche bis zum Bundesgerichtshof dagegen wehrt? Aber das müssen die Verantwortlichen vor Ort entscheiden. Das Thema ist ja in vielen, vielen Städten in Deutschland und auch darüber hinaus leider ein virulentes.
DOMRADIO.DE: Würde es nicht in Wittenberg auch die Wogen glätten, wenn man die einfache Lösung wählt, wenn man die Darstellung entfernt oder dauerhaft zuhängt?
Wilhelm: Wir haben uns nach langen Diskussionen gegen diese, ich sag mal, einfache Lösung entschieden. Die lag natürlich sofort auf dem Tisch. Die Frage, dass das nur aus dem zeitgenössischen Kontext heraus überhaupt verständlich ist und dass man darüber sprechen können muss und dass darauf jetzt proaktiv die Führerinnen und Führer aufmerksam machen, ist der kompliziertere und auch der pädagogischere Weg.
Aber es ist, wie ich finde, auch gesellschaftspolitisch der nachhaltigere Weg. Das mag man in anderen Regionen und in Wittenberg möglicherweise anders sehen.
DOMRADIO.DE: Lassen Sie uns noch einen Blick auf den grundsätzlichen Umgang der Gesellschaft mit Antijudaismus und Antisemitismus werfen. Wie nehmen Sie die aktuelle Debatte wahr?
Wilhelm: Ich glaube, die Menschen sind natürlich angesichts von Corona und Ukraine-Krieg des Themas ein bisschen müde geworden. Nichtsdestotrotz: Neonazis sitzen in allen Parlamenten, AfD rauf und runter. Und die Überfälle nehmen zu. Die Brutalität auch der Rechtsradikalen nimmt zu. Reichsbürger und wie sie sich alle schimpfen, Leute mit Alternativkonzepten oder angebliche Verschwörungstheoretiker: All dieser gesellschaftspolitische Aufruhr hängt - nicht immer und ich jedes Mal, aber doch öfter, als man beim ersten Anschein glaubt - auch durchaus mit Antisemitismus zusammen. Es ist das Wirken gegen Minderheiten, das Auflehnen gegen demokratische Strukturen. Und das geht weit, weit bis in die Mitte der Gesellschaft, über den rechtsradikalen Rand hinaus.
Wir haben durch die Feiern zu 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland über 2.500 Veranstaltungen für dieses jüdische Dasein in dieser Republik veranstalten können. Wir haben einige Aufmerksamkeit erzielt. Ich glaube, das Thema ist auch durch die mediale Präsenz deutlicher nach vorne gerückt. Aber es rottet den Antisemitismus natürlich nicht aus. Das wird uns noch Jahrzehnte begleiten, fürchte ich.
Das Interview führte Tobias Fricke.