DOMRADIO.DE: Bei der Vorstellung zur Münsteraner Missbrauchsstudie sind Begriffe wie Machtstrukturen und Zölibat gefallen. Das überrascht nicht wirklich, oder?
Prof. Dr. Thomas Großbölting (Professor für Zeitgeschichte (Deutsche Geschichte) an der Universität Hamburg): Ich bin bei Ihrer Bemerkung ein bisschen zusammengezuckt. Ich glaube, wenn man diese Schlagworte ein wenig weiterdenkt, dann kommt man an einen Kern des Problems.
Die Macht eines Priesters über seine Opfer ist eine ganz andere als die eines Sporttrainers. Die Motivation eines Bischofs zum Vertuschen ist eine ganz andere als die eines Gymnasialdirektors oder einer Supermarktleiterin beispielsweise, weil beide durch die spezifische Sakramententheologie der Katholischen Kirche in die Vorstellung eingebunden sind, dass wir es hier mit einer heiligen Institution und einem Priester als heiligem Mann zu tun haben.
Über die Sakramententheologie gibt es die Idee, dass die unmittelbare Anteilhaftigkeit an Jesus Christus in persona über Papst, Bischof an den einzelnen Kleriker übertragen wird. Das bedeutet, dass derjenige in besonderer Weise gegenüber den Laien herausgehoben ist.
Derjenige nutzt genau diese pastorale Macht, um dann die Gottesliebe des Kindes für sich zu funktionalisieren und für seine Interessen entsprechend einzusetzen, um Missbrauch zu begehen.
DOMRADIO.DE: Jetzt sprechen wir mit Ihnen nicht bloß als Historiker, sondern auch als Christ, als Katholik. Es gibt viele Leute, die verständlicherweise ihr Vertrauen in die Institution verlieren, die absolut schockiert sind und teilweise sogar am Glauben zweifeln, wenn sie so was lesen, was Sie geschrieben haben, was denken Sie da? Können Sie das nachvollziehen?
Großbölting: Ich kann das total nachvollziehen. Ich will niemanden mit meinen persönlichen Befindlichkeiten langweilen. Aber eine Beobachtung ist, glaube ich, tatsächlich mitteilenswert. Vieles von dem, was ich an sehr positiver religiöser Sozialisation in meiner Kindheit und meiner Jugend erfahren habe, erscheint nun in einem neuen Licht und nicht in einem guten Licht, sondern absolut doppelbödig, sodass ich mich persönlich im Moment religiös heimatlos fühle.
DOMRADIO.DE: Schauen wir mal auf die Implikationen für das Erzbistum Köln: In Ihrer Studie wird auch der spätere Kölner Kardinal, Erzbischof Höffner, angesprochen, der eine große Bedeutung über Köln und Münster hinaus hat. Gerade in der Zeit waren das bedeutende gesellschaftliche Figuren, die viel erreicht haben, die auch gewürdigt werden. Muss man die jetzt alle ausnahmslos vom Sockel holen? Also kann man auch differenzieren auf der einen Seite zwischen der Vertuschungsproblematik und auf der anderen Seite zwischen den gesellschaftlichen Errungenschaften, die zweifelsohne bestehen?
Großbölting: Es gibt diese gesellschaftlichen Errungenschaften, keine Frage. Warum wir das nicht aufrechnen können? Man wird nicht auf der einen Seite sagen, da gibt es eine bestimmte Anzahl Positives und dann ist es eine Missbrauchsvertuschung und damit ist es in der Summe in gewisser Weise ausgebügelt.
Wenn wir Plätze nach bedeutenden Persönlichkeiten benennen, wenn wir Gemeinschaften wie den Höffner-Kreis beispielsweise nach Kardinal Höffner benennen, dann ist das in der Regel dazu da, damit diese Personen eine gewisse Vorbildfunktion haben.
Diejenigen, die das tun, müssen sich gut überlegen, ob aus den heutigen Zusammenhängen heraus tatsächlich dann der jeweilige Namensgeber aus ihrer Perspektive, aus der heutigen Perspektive tatsächlich noch als Vorbild taugt. Wir werden dort eine scharfe Diskussion haben über viele, viele dieser früheren großen Männer in der Kirche.
DOMRADIO.DE: Die Missbrauchsstudie von Münster hat sich mit den Geschehnissen seit Ende des Zweiten Weltkriegs beschäftigt. Andere Studien sind da nicht so weit in die Vergangenheit zurück gegangen. Warum war die Betrachtung dieser langen Zeitspanne so hilfreich?
Großbölting: Man tut der Aufarbeitung keinen Gefallen, wenn man sich tatsächlich auf die letzten 45 Jahre beschränkt. Ich würde als Historiker dringend dazu raten, die Perspektive zu weiten. Wir haben für das Bistum Münster festgestellt, dass wir den größten Teil der Ersttaten in den 60er- und 70er-Jahren beobachten können.
Genau diese Jahre der Neuformierung des Katholizismus nach dem Zweiten Weltkrieg, dann der Neuorganisierung über das Zweite Vatikanum hinweg, sind ganz entscheidend, um diese Missbrauchszusammenhänge zu verstehen. Und ich wüsste nicht, warum es im Erzbistum Köln grundlegend anders gelaufen sein sollte als im Bistum Münster.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.