Misereor appelliert an die Bundesregierung, deutsche und europäische Interessen nicht auf dem Rücken benachteiligter Menschen im globalen Süden durchzusetzen. Auf der Jahrespressekonferenz des katholischen Werks für Entwicklungszusammenarbeit kritisierte Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel am Dienstag in Berlin, dass die Ursachen für die Klima- und Hungerkrisen auch in der europäischen Finanz- und Handelspolitik zu suchen seien.
"Die von Weltbank, IWF und verschiedenen Geldgebern seit Jahrzehnten vorangetriebene Exportorientierung in von Hunger betroffenen Ländern geht zu Lasten der Nahrungsmittelproduktion für deren eigene Versorgung. Zudem hat Deutschland für die Absicherung des hohen Energiebedarfs Europas in Ländern des Südens die Nutzung von Landflächen für den Export von Agrartreibstoffen bzw. den dafür notwendigen Rohstoffen vorangetrieben, was dort die Abhängigkeit von Lebensmittelimporten weiter vergrößert", sagte Spiegel.
Welthandel muss konsequent fair werden
Misereor setzt sich dafür ein, dass der Welthandel auf allen Feldern fair und insbesondere für Bäuerinnen und Bauern auskömmlich gestaltet wird. "Wir wenden uns dagegen, dass wohlhabende Nationen zur Deckung ihres vermeintlichen 'Bedarfs' in der Regel eigene Interessen durchsetzen. Wir fordern einen konsequenten Schutz von Menschen in benachteiligten Ländern des Südens gegen Landnahmen." Dazu gehöre die Beendigung öffentlicher Kredite, Bürgschaften und weiterer öffentlicher Förderinstrumente für großflächige Agrar- und Bergbauinvestitionen auf Kosten kleinbäuerlicher Landwirtschaft. „Wir erwarten entschiedene, effektiv regulierende Maßnahmen zur Eindämmung von Spekulationen auf Agrarmärkten, auf denen zum Schaden ärmerer Bevölkerungsgruppen auf steigende Lebensmittelpreise gewettet wird. Das kann in der Konsequenz bedeuten, bestimmte Agrarfinanzgeschäfte auszusetzen oder Handelslimits einzuführen", so der Misereor-Chef.
Sieht so nachhaltiger Klimaschutz aus?
Den eigenen Wohlstand zu Lasten anderer zu sichern, sei nicht zukunftsfähig. Mit Sorge sehe Misereor, dass Deutschland auf der Suche nach alternativen Gaslieferanten beabsichtigt, etwa mit dem Senegal Lieferverträge zu schließen, die in dem Land die Nutzung fossiler Ressourcen womöglich auf viele Jahre hinaus zementieren. "Müsste stattdessen der Senegal nicht dabei unterstützt werden, seine Strukturen bei der Erzeugung erneuerbarer Energien auszubauen?", fragte Spiegel. Ein ebenso problematisches Signal gehe von der Absicht der Bundesregierung aus, verstärkt Steinkohle aus Kolumbien einzukaufen, obwohl bei deren Förderung nachweislich Umwelt- und Menschenrechtsstandards massiv verletzt werden. "So sieht kein nachhaltiger, an Fairness orientierter Klima- und Menschenrechtsschutz aus!"
Beate Rudolf, Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte betonte angesichts der weltweiten Ernährungskrisen die Bedeutung des Menschenrechts auf Nahrung für die deutsche Politik: "Handels-, Wirtschafts- und Klimapolitik sind am Menschenrecht auf Nahrung auszurichten. Das ist menschenrechtlich geboten und liegt auch im wohlverstandenen Interesse Deutschlands". Das Menschenrecht auf Nahrung verpflichte die Staaten der EU, gemeinsam mit den Staaten des Globalen Südens und den betroffenen Menschen wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung von Hunger zu ergreifen. "Deutschland sollte hier eine Führungsrolle einnehmen", so Rudolf.
Der Vorsitzende der Katholischen Zentralstelle für Entwicklungshilfe (KZE), Karl Jüsten, äußerte die Sorge, dass die Bedeutung der Entwicklungszusammenarbeit durch krisenbedingte Kurzfristigkeiten in den Hintergrund geraten könnte. Das sei kontraproduktiv. "Die gegenwärtige Ausgangslage ermutigt autokratische Regime und Warlords, ihr Unwesen weiterzutreiben - mit unabsehbaren Folgen für deren Gesellschaften. Größere Migrationsbewegungen und eine Zunahme der Armut könnten daraus folgen." Eine Kürzung von entwicklungspolitischen Ausgaben verlagere Krisenbewältigung in die Zukunft und sei verantwortungslos. Gleichzeitig machte sich Jüsten dafür stark, dass ein Teil des Sondervermögens für die Bundeswehr in zivile Konfliktbearbeitung investiert wird.
Misereor-Bilanz
Misereor hat im vergangenen Jahr mit 63,1 Millionen Euro etwas weniger an Spenden erhalten als im Jahr 2020: 3,8 Millionen Euro. Insgesamt standen Misereor 2021 einschließlich der Gelder aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 247 Millionen Euro zur Verfügung, die für Projekt-, Bildungs-, Advocacy- und Lobbyarbeit in aktuell 86 Ländern Afrikas und des Nahen Ostens, Asiens und Ozeaniens, Lateinamerikas und der Karibik sowie in Deutschland eingesetzt werden. Aktuell unterstützt MISEREOR mehr als 3100 Projekte, die von rund 1800 Partnerorganisationen umgesetzt werden. Misereor/23.8.22)