Offiziell hat der Wahlkampf noch nicht begonnen. Doch in Nigeria mit seinen 220 Millionen Einwohnern gibt es kein anderes Thema mehr: Im Februar und März 2023 werden ein neuer Präsident, Gouverneure und Abgeordnete gewählt.
Amtsinhaber Muhammadu Buhari (79) darf nach zwei Perioden nicht mehr antreten. Spitzenkandidat des All Progressives Congress (APC) wird der einstige Gouverneur von Lagos, Bola Tinubu (70). Er gilt als Pate von Lagos und als jemand, der seit der Rückkehr zum Mehrparteiensystem im Jahr 1999 ein Tabu gebrochen hat: Sein running mate - in Nigeria treten die Kandidaten wie in den USA im Team an - ist mit Kashim Shettima, dem ehemaligen Gouverneur aus Borno im Nordosten, ebenfalls ein Muslim.
Christen und Muslime wechselten sich ab
Bisher galt es als ungeschriebenes Gesetz, dass die großen Parteien landesweit Kandidaten-Paare aus einem Christen und einem Muslim bilden. Auch hieß es bisher: Einem Muslim, der acht Jahre an der Staatsspitze stand, muss ein Christ folgen - und umgekehrt.
Religion ist in Nigeria ein sensibles Thema: Beide Glaubensgruppen debattieren, wer zahlenmäßig überlegen ist. Wer an der Macht ist, hat Zugang zu Ämtern und Ressourcen und verteilt diese - so wird angenommen - an jene, die der gleichen Religion oder Ethnie angehören.
Rückschritt für die Integration
Nigeria gilt als gespaltener Staat ohne Einheitsgefühl. Matthew Hassan Kukah, katholischer Bischof von Sokoto, bezeichnete in einem Interview des Senders "Channels TV" die Entscheidung Tinubus deshalb als einen Rückschritt für die Integration. Christen im muslimisch geprägten Norden lehnten sie ebenfalls ab.
Kritik gibt es auch deshalb, weil der Spitzenkandidat der größten Oppositionspartei, der People's Democratic Party (PDP), mit Atiku Abubakar ebenfalls ein Muslim ist. Er war von 1999 bis 2007 Vizepräsident und hatte 2019 gegen Buhari verloren.
Politischer Priester suspendiert
Kirchenvertreter gehen allerdings auch selbst in die Politik. Mit Hyacinth Iormem Alia ist im Bundesstaat Benue in Zentralnigeria ein katholischer Priester Spitzenkandidat des APC. Der 56-Jährige hat in Nigeria und den USA Theologie und Religionspädagogik studiert und promoviert. Anschließend arbeitete er in beiden Ländern als Priester.
Als seine politischen Ambitionen bekannt wurden, suspendierte ihn Ende Mai der Bischof der Diözese Gboko, William Amove Avenya. Die Mutterkirche erlaube es ihren Geistlichen nicht, "sich auf eigene Faust in die Parteipolitik einzumischen", heißt es in einem Schreiben.
Vertreter mit christlichem Profil gesucht
Neu ist das Phänomen nicht. Bisher waren es allerdings meist Pastoren von Pfingst- und Freikirchen, die anderen Hauptberufen nachgehen. Derzeit bekanntestes Beispiel ist Vizepräsident Yemi Osinbajo, ein Rechtswissenschaftler und Pastor in der Redeemed Christian Church of God, einer der größten Pfingstkirchen des Landes.
Bis zur Wahl 2015 war er Pfarrer der Gemeinde Olive Tree Parish, die auf der künstlich aufgeschütteten Insel Banana Island in Lagos liegt und Wohnort einer wohlhabenden Oberschicht ist. Er galt lange als Buharis Nachfolger, konnte sich aber nicht gegen Tinubu durchsetzen.
Buhari hatte stets nach Stellvertretern gesucht, die ein eindeutiges christliches Profil haben. 2011 - er verlor die Wahl gegen den damaligen Amtsinhaber Goodluck Jonathan (PDP) - war es der Pastor Tunde Bakare. Auch außerhalb der beiden großen Parteien suchen Prediger und Pastoren ihren Weg in die Politik. TV-Prediger Chris Okotie war bereits viermal Präsidentschaftskandidat.
Pfingstkirchen werben um Wohlhabende
Pfingstkirchen verzeichnen in Nigeria seit der Unabhängigkeit 1960 wachsende Mitgliederzahlen. Während des Ölbooms in den 1970er Jahren boten sie, so die Harvard Divinity School, der Fachbereich Theologie der US-amerikanischen Harvard University in Boston, jenen Unterstützung, die nicht davon profitierten, und verurteilten die Entwicklung. Das wandelte sich kurze Zeit später: Längst verbreiten sie - es gibt keine verlässlichen Statistiken über ihre genau Zahl - ein Wohlstandsevangelium.
Mitglieder betonen in Gottesdiensten und Flyern, dass sie durch den Kirchenbesuch zu Geld gekommen sind, einen Job gefunden haben oder ein Auto kaufen konnten. Vor allem in Großstädten werben die Kirchen konkret wohlhabende Menschen aus der Mittel- und Oberschicht an. So entstehen Netzwerke, die für die Politik interessant sind.