DOMRADIO.DE: Das Bistum Osnabrück hat den Forschungsauftrag mit 1,3 Millionen Euro ermöglicht. Was ist denn bis jetzt dabei rausgekommen?
Ingo Brüggenjürgen (Chefredakteur DOMRADIO.DE): Es sind über 6.000 Seiten, aber es ist zunächst einmal nur ein Zwischenbericht. Noch weitere zwei Jahre werden die Forscher der Universität an dem Thema arbeiten. Für den ersten Teil der Studie haben die Forscher 16 anonymisierte Fallbeispiele - 15 Priester und einen Diakon - analysiert.
Studienleiter Prof. Hans Schulte-Nölke hat deutlich gemacht, dass es Pflichtverletzungen der Bistumsverantwortlichen seit 1945 bis heute gegeben hat. Diese beziehen sich zum einen auf die Kontrolle von straffällig gewordenen Priestern, zum anderen auf den Schutz der Kinder und der Hilfe für die Kinder.
Für die Studie wurde ein Katalog von Rechten und Pflichten zusammengestellt, anhand dessen Pflichtverletzungen nachgewiesen werden konnten. Das Erschreckende ist dabei, dass eigentlich alle Bischöfe bis hin zum aktuell tätigen Bischof Bode pflichtwidrig gehandelt haben. Sie haben also nicht das getan, was verständige Amtsträger eigentlich hätten tun müssen.
DOMRADIO.DE: Weiß man denn, wie die Vorgehensweise der Forscher dabei war?
Brüggenjürgen: Sie haben gesagt, sie hätten noch nicht systematisch die Ursachen erforscht und noch nicht alle Betroffeneninterviews geführt. Das wird man jetzt schwerpunktmäßig machen. Sie haben zunächst ein gründliches Aktenstudium vorgenommen, wohl wissend, dass das nur eine besondere Perspektive bietet.
Auch im Bistum Osnabrück sind die Akten nicht vollständig. Man hat 1995 viele Akten aussortiert. Da gibt es große Probleme. Da wurden nach dem Untersuchungsbericht plötzlich doch wieder Akten in einem Tresor gefunden. Aber insgesamt haben die Forscher gesagt, das Bistum habe gut kooperiert, bereitwillig mitgezogen, es gebe eine Lernkurve.
Seit 2010 nimmt man die Verantwortung mehr in den Blick. Das war zuvor nicht der Fall. Gerade die Verantwortung gegenüber den Betroffenen war viel zu wenig im Blick. Man hat immer wieder den Schutz der eigenen Institution in den Vordergrund gestellt.
DOMRADIO.DE: Wie ist das jetzt bei der Untersuchung der Universität Osnabrück? Werden da die Betroffenen gehört?
Brüggenjürgen: Das ist wohl viel weitreichender erfolgt als in den Untersuchungen, die wir bisher gesehen haben. Drei Mitglieder mit einer Betroffenenperspektive waren in der Steuerungsgruppe. Man hat von allen Beteiligten heute auf dem Podium gehört, dass es ein gutes Miteinander gegeben habe, weil die Perspektive der Betroffenen eingebracht wurde.
In dem Zusammenhang wurde auch noch mal deutlich gemacht, dass die Kirche immer nur von Anerkennung des Leids spricht. Aber sie spricht nicht von Entschädigungsleistungen, weil damit natürlich ganz andere rechtliche Implikationen verbunden wären. Die Wissenschaftler haben der Kirche ins Stammbuch geschrieben, sie zeige sich nicht wie ein ehrbarer Kaufmann, sondern doch eher kleinkariert, bürokratisch und verwaltungsorientiert.
DOMRADIO.DE: Welches Versagen bescheinigt die Studie den Verantwortlichen denn noch?
Brüggenjürgen: Ein kolossales Fehlverhalten. Man kann vielleicht anfügen, dass die Bischöfe dafür nicht ausgebildet wurden und natürlich immer Richter und Verantwortlicher in einer Person seien. Aber sie hätten viel stärker auf der Seite der Betroffenen stehen müssen.
Man fragt sich, warum sie das nicht waren. Selbst wenn Maßnahmen verhängt worden sind, dann wurden sie nicht kontrolliert. Priester wurden vielleicht schnell aus dem Dienst entfernt, aber dann hat man sie gar nicht im Blick gehabt oder sie teilweise wieder an Stellen versetzt, wo sie neu eine Gefahr darstellten. Es wurde zwar bislang nicht festgestellt, dass es dadurch zu weiteren Missbrauchstaten gekommen sei, aber allein die Gefahr ist schon dramatisch genug.
Hier haben oberste Systemträger versagt. Die Wissenschaftler haben auch deutlich gemacht, dass für das System noch niemand die Verantwortung übernommen habe.
DOMRADIO.DE: Welche Konsequenzen sind nun zu erwarten? Auch Bischof Bode ist selbst in Bedrängnis geraten. Am Donnerstag will er sich noch mal in einer Pressekonferenz erklären. Wie geht es da weiter?
Brüggenjürgen: Das Bistum kannte die Untersuchung bis heute nicht. Die Verantwortlichen werden sich jetzt erst einmal kundig machen und lesen. Bischof Bode war bei diesem Thema immer ein Vorreiter.
Wir erinnern uns, dass er sich 2010, als die Missbrauchsfälle in Deutschland publik wurden, als einziger Bischof vor den Altar gelegt und um Verzeihung gebeten hat. Er hat ein Signal gesendet. Aber die Wissenschaftler haben jetzt gesagt, dass dieses Signal im Bistum vielfach dann doch nicht so umgesetzt wurde und auch nicht unbedingt so verstanden wurde. Man hätte sich noch energischer Schritte in der Verwaltung gewünscht.
Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass Bischof Bode jetzt mutig mit einem guten Beispiel vorangeht und sagt: Ja, ich erkenne, ich habe Fehler gemacht, trotz meines guten Willens. Und ich übernehme auch als erster Bischof eine systemische Verantwortung und sage, ich habe verstanden und ich erkläre meinen Rücktritt.
DOMRADIO.DE: Was ist ein bisheriges Fazit zur Aufarbeitung in der deutschen Kirche?
Brüggenjürgen: 2002 wurden in den USA die ersten Fälle sexuellen Missbrauchs publik, 2010 dann in Deutschland. Es gab entsprechende Leitlinien. Wir haben 2018 die MHG-Studie gehabt. Jetzt sind 27 Bistümer dabei, alle einzeln ihre entsprechenden Untersuchungen in je eigener Form durchzuführen. Wir haben sechs Bistümer, die das bis jetzt teilweise gemacht haben. Da wartet noch sehr, sehr viel Arbeit auf die Kirche. Es geht meines Erachtens doch meistens nur sehr schleppend voran.
Um beim biblischen Bild zu bleiben: Ich habe oft den Eindruck, der Kirche ergeht es wie demjenigen, der Kindern geschadet hat und für den es besser wäre, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals in die Tiefen des Meeres gestürzt würde. So heißt es in der Bibel. Dieser Mühlstein hängt der Kirche um den Hals. Sie wird ihn nicht los, auch wenn das Bistum Osnabrück sich hier in diesem Fall vorbildlich bemüht. Man sieht, es gibt noch sehr, sehr viel zu tun für die Kirche.
Das Interview führte Elena Hong.