Tafel-Chef kritisiert mangelnde Versorgung durch den Staat

"Das ist nicht unsere Aufgabe"

Die deutschen Tafeln blicken mit Sorge auf den kommenden Winter. Tafel-Chef Jochen Brühl hat den Eindruck, dass sich der Staat lieber auf die Tafeln verlässt, als selbst zu unterstützen. Auch für die Helfer ist die Situation belastend.

Tafel-Mitarbeiter verteilen Lebensmittel / © Patrick Seeger (dpa)
Tafel-Mitarbeiter verteilen Lebensmittel / © Patrick Seeger ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sorgt der Staat dafür, dass seine Bürgerinnen und Bürger nicht genug zu essen haben und deswegen braucht es die Tafeln?

Jochen Brühl (Bundesvorsitzender der Tafel Deutschlands e.V. und evangelischer Diakon): Die Tafeln sind eine reine Bürgerbewegung. Die haben sich vor jetzt fast 30 Jahren gegründet. Die Grundidee, die sich bis heute nicht geändert hat, ist, dass wir überzählige Lebensmittel von Discountern oder von Herstellern und Erzeugern bekommen, abholen und dann an Menschen verteilen, die nachweislich bedürftig sind. Dieses Prinzip hat sich eigentlich bisher nicht geändert.

Jochen Brühl, Vorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Tafel / © Oliver Mehlis (dpa)
Jochen Brühl, Vorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Tafel / © Oliver Mehlis ( dpa )

DOMRADIO.DE: Das heißt, die Tafeln sind im Grunde auch entstanden, um Lebensmittel zu retten, die sonst unnötigerweise im Müll landen würden?

Brühl: Das ist sehr unterschiedlich. Die einen würden sagen, sie haben sich gegründet, um mit diesen geretteten Lebensmitteln vor allen Dingen Menschen zu helfen, die in Not sind.

Andere wiederum sagen, sie retten vor allen Dingen Lebensmittel und wollen damit Menschen unterstützen. Das sind zwei unterschiedliche Zugänge.

Das ist ein Dualismus, der sich bei uns entwickelt hat und den wir jetzt seit fast 30 Jahren betreiben.

DOMRADIO.DE: Heute haben die Tafeln große Probleme. Die Lebensmittelspenden gehen zurück und immer mehr Menschen benötigen die Unterstützung der Tafeln. Was heißt das für die Gesamtsituation der Tafeln?

Brühl: Ich bin jetzt 25 Jahre bei den Tafeln. Diese Situation jetzt ist die größte Herausforderung, die die Tafeln je erlebt haben. Das hat schon mit der Pandemie begonnen. Das Besondere an der Pandemie und jetzt an dieser Krise, die uns alle betrifft, ist, dass die Helfenden selber Teil dieser Krise sind. Das heißt, die haben selber mit den steigenden Preisen und den steigenden Energiekosten zu tun.

Die Tafeln als Institutionen oder Organisationen haben das Problem, dass sie auch Kühlaggregate und Dieselfahrzeuge haben. Das ist also eine große Belastung.

Jochen Brühl, Vorsitzender der Tafeln Deutschland e.V.

"Diese Situation jetzt ist die größte Herausforderung, die die Tafeln je erlebt haben"

Was in der jetzigen Situation noch dazu kommt, ist die große Anzahl von Geflüchteten. Da ist oft eine Belastung da, dass man die Sprache nicht versteht oder dass zum Beispiel traumatisierte Geflüchtete zu den Tafeln kommen. Oder dass Behörden sagen, dass noch nicht zu 100 Prozent geklärt sei, wann die Menschen ihr Geld bekommen und dass sie so lange zu den Tafeln gehen sollen.

Das sind natürlich Faktoren, die gar nicht gehen und das führt dazu, dass die Helfenden in einer unglaublichen Belastungssituation sind. Die machen das freiwillig. Die engagieren sich, obwohl sie von dieser Krise selbst betroffen sind. Das ist eine Riesenherausforderung.

Tafeln in Deutschland

Die bundesweit agierenden Tafeln haben sich in den vergangenen 20 Jahren zu einer der größten sozialen Bewegungen in Deutschland entwickelt. Waren es 2002 noch gut 300, gibt es heute bundesweit etwa 900 Tafeln mit rund 2.100 Tafel-Läden und Ausgabestellen. Bei ihnen engagieren sich circa 60.000 ehrenamtliche Mitarbeiter. Alle zusammen versorgen sie mehr als 1,5 Millionen Menschen mit Lebensmitteln, die sie als Spenden im Handel und bei Herstellern gesammelt haben.

Helfer sortieren  Salat bei der Lebensmittelausgabe in der Kirche Sankt Karl Borromäus in Köln / © Harald Oppitz (KNA)
Helfer sortieren Salat bei der Lebensmittelausgabe in der Kirche Sankt Karl Borromäus in Köln / © Harald Oppitz ( KNA )

Dazu kommen weniger Lebensmittel, die zur Verfügung stehen für immer mehr Menschen, die zu uns kommen.

DOMRADIO.DE: Fühlen Sie sich so, als ob Sie einspringen müssen, wo der Staat versagt?

Brühl: Eigentlich ist die Grundidee, dass wir Zusatz sind, dass wir unterstützen, dass aber eigentlich der Staat die Bürger versorgen muss. Aber wir erleben zunehmend, dass wir auch in eine Situation geraten, wo wir auch versorgen sollen.

Aber das ist überhaupt nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist es zu unterstützen. Da muss sich der Staat auch selbst noch mal hinterfragen lassen, in welcher Verantwortung er ist, was er für Menschen in Not leisten muss und was die Aufgabe bürgerlichen Engagements und einer Zivilgesellschaft ist.

Ich glaube, es braucht beides. Aber der Staat muss sehr deutlich auch seine Aufgaben erfüllen.

DOMRADIO.DE: Wer kümmert sich darum, dass das alles der Situation angepasst wird? Woher kommen die Mitarbeitenden?

Brühl: Das ist eine große Herausforderung, weil zum Beispiel in der Corona-Pandemie auch die älteren Helfenden bei uns gefährdet waren und sich deshalb zurückgezogen haben. Da haben dann junge Menschen geholfen, um uns zu unterstützen. Aber der Aufwand, eine Tafel zu betreiben und die zusätzlichen Angebote mit Menschen zu bestücken, der ist wirklich sehr, sehr herausfordernd. Das ist für viele Tafeln auch eine Grenzerfahrung.

Die Helfenden sind inzwischen schon über ihre Grenzen gegangen, weil es im Prinzip kein Ende gibt. Es ist nicht abzusehen, was jetzt noch kommt und wie das weitergehen wird. Das führt dazu, dass 32 Prozent der Tafeln in Deutschland gesagt haben, dass sie einen Aufnahmestopp machen und keine Kunden mehr zusätzlich dazunehmen, weil sie das nicht schaffen.

Das muss man respektieren. Eben auch, weil über 60 Prozent unserer Helfenden sagen, dass sie psychisch mit dieser ganzen Situation so belastet sind, dass sie einfach nicht mehr können.

Jochen Brühl, Vorsitzender der Tafeln Deutschland e.V.

"Die Helfenden sind inzwischen schon über ihre Grenzen gegangen"

DOMRADIO.DE: Arbeiten Sie auch mit den Kirchen zusammen?

Brühl: Wir haben viele Tafeln, die an unterschiedliche Träger angebunden sind. Dazu gehören unter anderem auch Kirchengemeinden. Immer mehr Kirchengemeinden sagen, dass sie ihr Angebot jetzt auch erweitern wollen. Sie wollen zum Beispiel in der Woche einen Mittagstisch anbieten, gerade für Seniorinnen und Senioren oder auch Alleinerziehende in dieser kalten Jahreszeit. In gewärmte Gemeinderäume zu gehen, ist für viele Kundinnen und Kunden der Tafel ganz wichtig.

Man muss ganz deutlich sagen, dass wir auch sehr gute Erfahrungen damit machen, dass wir das Thema Vereinsamung von Menschen an der Stelle noch mal ins Bewusstsein ziehen können. Denn neben der Unterstützung mit Lebensmitteln ist das Thema Einsamkeit auch ein großes Thema. Viele dieser Menschen haben nicht das Geld, essen zu gehen oder mal einen Kaffee zu trinken oder den Weihnachtsmarkt zu besuchen.

Armut macht auch einsam und das ist eine Belastung. Deshalb sind solche zusätzlichen Angebote wie bei den Tafeln, die auch oft in Trägerschaft von Kirchengemeinden oder diakonischen und karitativen Trägern passieren, wirklich sehr, sehr gute Angebote, weil das mehrere Faktoren mit sich bringt. Unter anderem, dass Menschen zusammenkommen.

DOMRADIO.DE: Wenn über so viele Tafeln in Deutschland jetzt schon einen Aufnahmestopp verhängen mussten, wie sehen Sie in den Winter?

Brühl: Ich sehe kritisch darauf, wobei sich Tafeln sehr schnell auf Situationen einstellen können. Wir wollen nicht, dass jemand hungrig ohne Lebensmittel nach Hause geschickt wird. Das ist für uns belastend. Das ist auch noch ein zusätzlicher Faktor für die Helfenden, dass sie eigentlich helfen wollen und merken, dass sie das Material dafür gar nicht haben und dann versuchen, das Vorhandene besser aufzuteilen. Das macht uns für den Winter noch mal größere Sorgen und belastet uns auch.

Natürlich werden auch einige Tafeln über die Feiertage schließen. Aber Armut macht ja keinen Urlaub, Armut macht keine Pause. Das ist auch so ein Druck. Wir machen Weihnachtspause und die Menschen, die sonst zu uns kommen, haben weiterhin Not. Das belastet unsere Helfenden sehr. Deswegen machen wir uns viele Gedanken. Wir glauben auch aufgrund der Situation in der Ukraine, dass es vielleicht auch noch mehr Menschen geben wird, die verständlicherweise dahin wollen, wo es sicher ist. Das betrifft dann auch die Tafeln.

DOMRADIO.DE: Wie kann denn jeder Einzelne die Tafeln unterstützen?

Brühl: Wir haben zum Beispiel mit dem umgekehrten Adventskalender eine Initiative gestartet. Das heißt, man sammelt 24 Tage lang in dieser Adventszeit haltbare Lebensmittel oder Drogerieartikel und gibt sie dann zu den Tafeln.

Das heißt, man entwickelt auch noch mal ein Bewusstsein, was man an Überfluss hat, was man weitergeben kann oder wo man konkret unterstützen kann. Da machen ganz viele Einzelpersonen, Kindergärten, Schulen oder Firmen mit. Man kann auch jetzt noch einsteigen.

Man kann natürlich auch die Tafel vor Ort fragen, was man tun kann. Lebensmittel spenden zum Beispiel. Vielleicht mal ein Pfund Kaffee oder zehn Konserven vorbeibringen. Es gibt ganz viele Möglichkeiten. Ich empfehle immer sehr, dass man direkt Kontakt mit den Tafeln vor Ort aufnimmt, um zu hören, was man tun kann.

Es wäre blöd, wenn man irgendwas aus einer guten Absicht heraus macht und das wird dann gar nicht gebraucht. Deswegen besser kurz anrufen und nachfragen.

Das Interview führte Uta Vorbrodt.

Quelle:
DR