epd: Das Bürgergeld kommt im Januar, doch Diskussionen über diese neue Sozialleistung reißen nicht ab. Mal gibt es Kritik am Fortbestand der Sanktionen, mal rügen Expertinnen und Experten die Höhe der künftigen Regelsätze. Wir bewerten Sie die Reformansätze?
Ulrich Lilie (Präsident der Diakonie Deutschland): Das war alles andere als eine leichte Geburt. Deshalb sind wir erst einmal sehr froh, dass dieses Gesetz nun am 1. Januar in Kraft tritt.
epd: Aber gibt es wirklich nennenswerte Verbesserungen? Manche Kritiker sprechen von "Hartz V" oder "Bürgerhartz"?
Lilie: Das sind politisch besetzte Kampfbegriffe, mit denen ich wenig anfangen kann. Es gibt klare Verbesserungen mit dem Bürgergeld, und die gilt es auch zu sehen und zu würdigen. Allein der neue Grundansatz, dass es um kompetente Beratung und um Weiterbildung geht, bedeutet ein Umdenken. Es geht um ein viel individuelleres Hinschauen, um die Menschen wieder in Arbeit zu bringen und nicht mehr in irgendwelche Beschäftigung, nur damit die Statistik stimmt.
Das ist auf jeden Fall für viele ein Fortschritt. Aber klar ist auch, dass wir keinen tiefgehenden Bruch mit der Hartz-IV-Logik sehen.
epd: Auch die Diakonie hält ja, nicht zuletzt aufgrund der hohen Inflation, die Regelsätze ab 2023 für zu niedrig. Zwar wurde der Berechnungsmodus jetzt geändert, aber das Ergebnis stimmt aus Ihrer Sicht immer noch nicht.
Lilie: Wir sind da weiter im kritisch-konstruktiven Gespräch mit den politisch Verantwortlichen. Natürlich steigen die Regelsätze jetzt an, das begrüßen wir. Ich möchte auch keine Skandalisierungsdebatte führen. Das ist nicht sinnvoll. Aber es stimmt auch, dass die Berechnungen für das neue Bürgergeld nicht immer nachvollziehbar sind. Auch wir haben Berechnungen dazu angestellt, die im Ergebnis höhere Zahlungen begründen würden. Aber, ohne genaue Zahlen zu nennen, das ist gar nicht das Kernproblem ...
epd: Sondern?
Lilie: Das Problem ist das grundsätzlich richtige Abstandsgebot. Danach sollen auch Geringverdiener immer mehr Geld zur Verfügung als Bezieher staatlicher Transfers. Das berührt die Frage, wie viel Geld wir jemandem zur Verfügung stellen, der arbeitslos ist, damit er an der Gesellschaft teilhaben kann und alle grundlegenden Bedürfnisse befriedigt werden können. Ich finde es gefährlich, wenn hier auf dem Rücken von bedürftigen Menschen nur Neiddebatten geführt werden.
epd: Wie würde die Diakonie dieses Problem lösen?
Lilie: Nach unseren Vorstellungen sollte der Abstand bei lebensnotwendigen Dingen wie Wohnen, Ernährung und Kleidung zu jemandem, der Geld verdient, nicht mehr als 20 Prozent betragen. Bei anderen Dingen könnte es eine deutlich größere Differenz sein.
Darüber brauchen wir eine differenzierte Debatte im Land. Was gehört zum Existenzminimum und wie wird das berechnet? Das muss transparent sein, ist es aber derzeit nicht.
epd: Die neue Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, geht fest davon aus, dass das Bürgergeld fristgerecht ab Januar umgesetzt wird. Teilen Sie diesen Optimismus?
Lilie: Das Wort von Andrea Nahles in Gottes Ohr. Aber im Ernst: Man wird sehen, ob wirklich alle Jobcenter bereits in der Lage sind, das neue Bürgergeld pünktlich auszuzahlen sowie neue Anträge schnell zu bearbeiten. Die haben schon viel auf den Schreibtischen. Da geht es um die Karenzzeiten, um angemessenen Wohnraum und auch um Vermögensprüfungen. Das ist eine echte Herausforderung. Ich hoffe, die Umsetzung klappt, denn die Menschen können nicht länger warten.
Sie brauchen die Unterstützung dringend.
Das Interview führte Dirk Baas.