Benedikt XVI. war der erste Papst der Neuzeit, der freiwillig sein Amt abgab. Dabei berief er sich auf sein Gewissen - obwohl er dieser Instanz stets misstraute und theologisch ganz andere Schwerpunkte setzte. Wie wohl kein Papst vor ihm ist Benedikt XVI. auch auf dem Stuhl Petri ein Theologe geblieben.
Bereits als junger Wissenschaftler gehörte er zu den führenden deutschen Dogmatik-Professoren, die das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) prägten. Später entfremdete er sich immer mehr von seinen Kollegen.
Wer den Denkweg Joseph Ratzingers verfolgt, stellt fest: Schon von Anfang an war er kein liberaler "Intellektueller", sondern ein frommer Gottesgelehrter. Den Glauben band er stets an die kirchliche Tradition der Spätantike.
Die wichtigsten Leitlinien seines Denkens:
- Das Erbe der Kirchenväter:
Ratzinger hielt an dem fest, was er bereits in seinen ersten Büchern
herausarbeitete: 1954 in der Doktorarbeit über den Kirchenbegriff des von ihm hochgeschätzten Augustinus (354-430) und 1959 in seiner Habilitationsschrift über die Geschichtstheologie Bonaventuras (1221-1274). Glaube und Offenbarung stehen demnach über der Vernunft.
Die Philosophie ist nur eine untergeordnete Hilfswissenschaft - ohne volle Autonomie.
- Scholastik:
Zum theologisch-philosophischen System des Kirchenlehrers Thomas von Aquin, dem Gipfel der mittelalterlichen Scholastik, blieb Ratzinger auf Distanz, weil er es für zu statisch und zu wenig geschichtlich-dynamisch hielt. Als Konzilstheologe trug er mit dazu bei, die katholische Kirche aus dem engen neuscholastischen Verständnis von Offenbarung und Dogma zu lösen. Aber auch die neuzeitliche Wende des Denkens hat er nicht mitvollzogen. In der Aufklärung sah er einen Aufstand gegen die von Gott gesetzte Ordnung, einen Zerfall der von den Kirchenvätern geschmiedeten Einheit von neutestamentlichem Glauben und platonischer Metaphysik.
- Gehorsam:
Suspekt blieben ihm Philosophen wie Immanuel Kant, der die Vernunft von den Vorgaben der Offenbarung emanzipierte und auf das Gewissen und die Reflexion des freien Subjekts setzte. In diesem modernen Freiheitsdenken erkennen viele Theologen heute eine Nähe zum christlichen Glauben an den Gott, der Israel aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat. Ratzinger dagegen warnte vor einem Subjektivismus der Beliebigkeit, der den Wahrheitsanspruch des kirchlichen Glaubens zerstöre und den Menschen an die Stelle Gottes setze.
- Naturrecht:
Auch in seiner Rede im Deutschen Bundestag 2011 blieb er bei einem vormodernen Modell der Rechtsbegründung. Moralische und rechtliche Grundsätze können demnach aus der Natur des Menschen abgeleitet werden, denn der Schöpfergott habe seinen Willen und seine Vernunft als verbindliche Norm in die Natur hineingelegt. Homosexualität und künstliche Empfängnisverhütung widersprechen nach diesem Denken der Schöpfungsordnung.
- Kanonische Bibelauslegung:
Ratzinger distanzierte sich von der historisch-kritischen Exegese.
Diese versucht, mit wissenschaftlichen Methoden historische Fakten (zum Beispiel über Jesus von Nazareth) zu ermitteln und kirchliche Glaubensaussagen (über den Gottessohn Jesus Christus) davon zu trennen. Für Ratzinger gehörte beides zusammen. Eine Schriftauslegung ohne den Kontext der gesamten Bibel und ohne die katholische Lehrtradition lehnte er ab.
- Kirche:
Ratzinger hatte einen spirituellen und klerikalen Begriff der
(katholischen) Kirche als "mystischer Leib Christi". Die reformatorischen Kirchen waren für ihn nicht Kirche im eigentlichen Sinn. Forderungen nach einer Demokratisierung der Institution Kirche hielt er für ein bürgerliches und protestantisches Missverständnis.
Kritiker bescheinigten Ratzinger ein überhöhtes Bild von der "Reinheit der Kirche", die geschützt werden müsse. Dies habe mit dazu beigetragen, dass sexueller Missbrauch von Minderjährigen jahrzehntelang vertuscht wurde.
- Entweltlichung:
Die Kirche müsse sich entweltlichen, forderte der deutsche Papst 2011 in Freiburg. Kritisch beurteilte er politische Forderungen im Namen der Reich-Gottes-Botschaft Jesu. Die Befreiungstheologie (Gustavo Gutierrez), die Theologie der Hoffnung (Jürgen Moltmann) und die Politische Theologie (Johann Baptist Metz) beklagten zum Beispiel die Entrechtung von Landarbeitern in Lateinamerika und eine Mitschuld der Kirche am Holocaust. Ratzinger witterte in solchen Ansätzen eine marxistische "Umwandlung der Eschatologie in politische Utopie".
- Messopfer:
Sein Denken war zutiefst liturgisch. Die gottesdienstliche Feier der Sakramente galt ihm als Zentrum des christlichen Lebens und Glaubens, als "Berührungsstelle mit Gott". Der Ratzinger-Schüler Hansjürgen Verweyen sieht darin "die zentrale Konstante in der Theologie" seines
Lehrers: In der Eucharistiefeier lässt sich der Gläubige demnach "in die Selbsthingabe Jesu Christi hineinnehmen" und wird "zum eigentlichen 'Aufbewahrungsort' des Opfer- und Osterlammes". Die Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat diesen Zusammenhang nach Ansicht Benedikts zum Teil verdunkelt; daher ließ er den alten, lateinischen Messritus wieder zu - eine Entscheidung, die sein Nachfolger Franziskus 2021 wieder rückgängig machte.
Bernward Loheide (KNA)