DOMRADIO.DE: Hätten Sie gedacht, dass noch mal Bewegung in diesen Fall kommt?
Ulrich Nersinger (Journalist und Vatikanexperte): Ja, mit Sicherheit habe ich gedacht, wird es dazu kommen. Es ist eine unendliche Geschichte. Und sie harrt immer noch einer Auflösung oder zumindest klärender Worte.
Da ist es ganz selbstverständlich, dass gerade in unserer Zeit der sozialen Medien mit Internet, Facebook, TikTok oder WhatsApp so ein Thema wieder aktuell ist. In diesem Bereich der neuen Medien bleibt ein solches Thema weitaus aktueller als früher.
DOMRADIO.DE: Wie hat denn die Netflix-Serie es geschafft, dass der Fall wieder aufgegriffen wird?
Nersinger: Es ist schon ein stückweit ihr Verdienst. Sie hat nicht so unglaublich viel Neues gebracht. Sie hat schon einige Aspekte neu beleuchtet und auch interessante Aspekte beleuchtet. Aber sie hat den Verdienst, dass durch diese Präsenz der neuen Medien - wozu auch die Streamingdienste gehören - der Fokus doch stärker auf diesen Fall gerichtet worden ist.
Das ist vielleicht auch ein Grund, warum man jetzt im Vatikan doch sagt: "Wir müssen uns das Ganze noch einmal vornehmen und wir müssen neue Ermittlungen auf diesen Fall ansetzen".
DOMRADIO.DE: Emanuela Orlandi ist vor 39 Jahren verschwunden. Welche Theorien gab es denn zu ihrem Verschwinden?
Nersinger: Alle möglichen. Wenn man sich die Theorien mal anschaut, ist man eigentlich der Überzeugung, dass jemand wie ein Fleming oder John le Carré keinen besseren Roman hätte schreiben können. Aber es ist kein Roman, es ist die Realität, es ist das Leben. Es ist der Eingriff in das Leben eines jungen Mädchens und auch einer Familie, die eng mit dem Vatikan verbunden war.
Da bedarf es einer Aufklärung. Vor allen Dingen, wenn wir bedenken, dass wir uns momentan im Vatikan in einem Morast von Skandalen befinden.
Wir haben eine solche Fülle. Wir haben die Finanzskandale, die man jetzt versucht, aufzuarbeiten. Wir haben den Fall eines Jesuiten-Künstlers, der im Vatikan ein und aus ging und dem vorgeworfen wird, sich an Frauen vergangen zu haben. Wir haben die Fälle des Vikariates, wo der Heilige Vater jetzt auch für das Vikariat Rom neue Bestimmungen aufgestellt hat.
Wir haben eine ganze Reihe von solchen Vorfällen. Man muss endlich mal diesen Morast in irgendeiner Weise trockenlegen. Es gibt ja eine schöne deutsche Redewendung, die heißt "Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende." Man muss die Sachen auf den Tisch legen.
DOMRADIO.DE: Sie haben eben gesagt, viele Theorien gab es, Sie haben jetzt nicht genau gesagt welche. Heißt das denn, dass noch nicht alles durchdacht worden ist? Oder dass man jetzt noch mal nach Dingen sucht, die man übersehen haben kann, die man vielleicht, weil Sie eben die sozialen Medien genannt haben, dadurch finden könnte?
Nersinger: Es ist eigentlich alles durchdacht worden, von der Spionage her, von politischen Motiven her, von Geldmotiven her, Erpressung, von sexuellen Vorgängen her. Man hat alles schon einmal durchdacht, aber es ist natürlich relativ schwierig, da wirklich etwas zu finden.
Ein Problem, das auch von dem Bruder des Mädchens und der Familie angesprochen worden ist, liegt darin, dass man sich ziemlich sicher ist, dass die letzten drei Päpste in irgendeiner Weise darüber informiert worden sind. Es macht keinen Sinn zu glauben, dass sie nicht ein Dossier vor sich gehabt haben, darüber gesprochen haben. Es wird immer wieder neu diskutiert und dann wird es geleugnet.
Wir haben im aktuell so heftig diskutierten Buch von Georg Gänswein fünf Seiten, die sich dem Fall Orlandi widmen. Dessen Angaben stimmen dann wiederum nicht mit denen von Piero Orlandi, dem Bruder der Verschwundenen, überein.
Er sagt selber, er habe gesehen oder ihm sei berichtet worden, dass Akten, dass Dossiers auf den Tischen der Päpste gelegen haben. Orlandi sagt das also doch mit Überzeugung. Ich denke, der Vernunft würde das auch widersprechen, wenn das nicht geschehen ist.
Um die ganze Sache aufzuhellen, muss man das, auch wenn gewisse Personen eventuell belastet werden, einmal offenlegen. Denn man wird den Kampf gegen die sozialen Medien in dieser Angelegenheit mit Sicherheit, wenn man das nicht tut, verlieren.
DOMRADIO.DE Glauben Sie, dass es noch möglich ist, den Fall aufzuklären?
Nersinger Es gibt einen schönen lateinischen Ausdruck "Sperare contra spem", also "Hoffen gegen die Hoffnung". Ich denke, man muss es wenigstens versuchen. Ich kann mir vorstellen, dass es zumindest Lichtblicke, wenn man den Ausdruck in dem Zusammenhang verwenden kann, bei dem Fall gibt.
Man muss alles Mögliche versuchen, denn sonst macht man sich auch als eine Institution, die für Moral steht, unglaubwürdig. Ich denke, dass diese Eröffnung der neuen Ermittlungen ein solcher Schritt in diese Richtung sind. Ich hoffe und bete auch, dass es zu Erfolgen kommt.
Das Interview führte Dagmar Peters.