Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) sprach in Leipzig mit dem derzeitigen Amtsinhaber, Andreas Reize, über Bachs Ambitionen, seine musikalische Größe, menschliche Schwächen und wie man heutzutage bei solch einem Übervater im Amt als Leipziger Thomaskantor bestehen kann.
KNA: Herr Reize, weiß man eigentlich, was Johann Sebastian Bach vor 300 Jahren bewogen hat, sich auf Ihre Stelle zu bewerben?
Reize: Wir wissen über die Ratsprotokolle zum Auswahlverfahren, dass Bach bestenfalls dritte Wahl war - Georg Philipp Telemann war der klare Favorit. Nach dessen Absage kam Christoph Graupner ins Spiel, der dann schließlich absagen musste. Leider fehlen die Passagen, warum Bach am Ende doch den Zuschlag bekam. Er bewarb sich ja aus seiner Stelle als Kapellmeister in Köthen heraus.
Er hatte da eigentlich alles: ein Profi-Orchester am Hof, ein professionelles Sänger-Ensemble, darunter auch seine spätere Ehefrau Anna Magdalena. Aber dann begann sein Dienstherr, Fürst Leopold von Anhalt-Köthen, immer mehr Schulden zu machen, heiratete eine wenig der Musik zugetane Frau - eine "Amusa" wie Bach an Georg Erdmann schreibt - und die Hofkapelle wurde verkleinert. Da Bach aber weiterhin große Ambitionen hatte, bewarb er sich nach Leipzig. Wobei es ihm nicht behagte - auch das wissen wir aus dem besagten Brief - vom Kapellmeister zum Kantor zu werden.
KNA: Also war Leipzig ein Abstieg für ihn?
Reize: Na, also der Titel Kapellmeister aus Köthen war ihm schon sehr wichtig, und er nannte sich in Leipzig auch weiter so. Nur Thomaskantor war ihm zu wenig. Finanziell hat er sich in Leipzig nicht unbedingt verbessert. Er begründete den Wechsel letztlich mit zwei Dingen: der familiären Situation - seine ältesten beiden Söhne begannen mit dem Studium, da bot sich die Studentenstadt Leipzig an.
Zum anderen war sein musikalisches Hauptanliegen, Kirchenmusik zu Gottes Ehren zu schreiben - und das konnte er mit der Leipziger Stelle bestens, anders als in Köthen.
KNA: Wie würden Sie Bach beschreiben?
Reize: Bach ist universell. Bach war theologisch höchst gebildet. Er steht wie eine Sonne inmitten der musikalisch-bachischen Familie. In dieser großen Musikerfamilie hat er alles mitbekommen, was man an musikalischer Bildung damals mitbekommen konnte, und zwar auf höchstem Level. Johann Sebastian Bach ist insofern nicht ein Messias, der aus dem Nichts aufgetaucht ist, sondern steht in einer familiären Tradition.
KNA: Was weiß man über seinen Charakter?
Reize: Sehr wenig. Im Umgang war er vermutlich weniger zugänglich als ich. (Lacht.) Er war wohl ein Mensch mit Ecken und Kanten. Aus Ratsprotokollen wissen wir, dass er sich immer mal wieder mit Leuten angelegt hat. Das hat in Arnstadt begonnen und zog sich dann bis Leipzig hin. Ich denke, er hatte einfach höchste Ansprüche und war kein Mann der Kompromisse. Er hat ganz genau gewusst, was er will.
KNA: Welche drei Stücke sollte man sich anhören, um ein Gefühl für Bachs Größe zu bekommen?
Reize: Ein zentrales Element waren für ihn die Tasteninstrumente, da empfehle ich zum Beispiel die Passacaglia in c-Moll für Orgel oder die Goldberg-Variationen für Cembalo (Klavier). Zweites wichtiges Instrument für ihn war die Solo-Violine - da ist mein Tipp die Chaconne in d-Moll. Und dann natürlich die Chorwerke. Ich finde zum Beispiel den Eingangschor der Matthäus-Passion mit seiner musikalischen Gewalt sehr eindrücklich oder den der Johannes-Passion.
KNA: In diesem Jahr feiert auch das Bach-Fest in Leipzig 300-jähriges Jubiläum. Würden Sie Bachs Musik eher als zeitlos oder als modern charakterisieren?
Reize: Beides. Bach ist gerade vom Theologischen her extrem zeitlos. Seine Verbindung von Text und Musik fordert uns bis heute jedes Mal aufs Neue heraus. In der Matthäus-Passion etwa begegnet uns ein sehr menschlicher Jesus, der mir auch nah ist, der extrem leidet und auch Unsicherheiten mit sich trägt.
KNA: Wie sehr setzt Ihre Interpretation von Bach die Beschäftigung mit Theologie voraus?
Reize: Das ist mein täglich Brot. Ich könnte mir keine Beschäftigung mit Bach vorstellen, wenn ich mich nicht intensivst mit den Texten und der Theologie beschäftigen würde. Manches überfordert mich auch, da bitte ich dann zum Beispiel die Thomaskirchen-Pfarrerin Britta Taddiken um Hilfe. Und für mich stellt sich dann immer noch die Aufgabe, wie ich das Ganze einem neunjährigen Thomaner erklären und vermitteln kann.
KNA: Sie sind Bachs 18. Nachfolger in Leipzig - was bedeutet es Ihnen?
Reize: Eine schönere Stelle kann es für mich eigentlich gar nicht geben. Die Zusammenarbeit mit den Jungs, den Thomanern, und auch dem Gewandhaus ist auf einem so tollen Level, wie man es sich nur wünschen kann. Wobei ich den Level natürlich selber definiere.
KNA: Sie haben in einem Interview gesagt: 'Ich kriege vor Bachs Genialität den Mund nicht zu.' Wie viel Freiraum lässt Ihnen dieser Übervater bei der musikalischen Gestaltung Ihres Jobs?
Reize: Viel, sehr viel. Wenn ich jetzt zum Beispiel die Johannes-Passion vorbereite, die in zwei Monaten ansteht, dann ist mein Schreibtisch voll mit Bibel, der Partitur, Quellen und ganz viel Literatur dazu. Ich befasse mich exzessiv damit und versuche Bach möglichst nahe zu sein, bis ich das Gefühl habe, ich bin voll von seiner Botschaft durchtränkt - und finde dann meine eigene Interpretation. Dann gehe ich meinen eigenen Weg. Ich zweifle oft in der Vorbereitung, aber wenn die Endfassung steht, dann habe ich für diesen Moment keine Zweifel mehr.
KNA: "Bach würde sich im Grabe umdrehen!" - Wäre das die denkbar schlimmste Kritik an Ihrer Arbeit?
Reize (lacht): Das hat er vielleicht schon gemacht. Aber das ist für mich nicht schlimm. Ich denke, er war schon sehr kritisch, und man konnte es ihm wohl kaum recht machen. Davon berichten auch seine Schüler. Von dem her bin ich da ziemlich entspannt.