KNA: Frau Hiller, wollen Sie nicht, dass Kinder lernen, glücklich zu sein?
Simone Hiller (wissenschaftliche Mitarbeiterin am Katholischen Institut für berufsorientierte Religionspädagogik der Universität Tübingen): Doch, natürlich. Wir alle möchten, dass unsere Kinder glücklich werden. Und wir möchten vor allem, dass sie die Kompetenz haben, dieses Glück für sich zu entdecken und entwickeln. Aber ich bezweifle, dass man es als Schulfach unterrichten sollte.
KNA: Was ist Glück eigentlich?
Hiller: Hier fängt das Problem schon an. Man wünscht ja ständig jedem Glück. In Prüfungssituationen, zum Geburtstag und so weiter. Aber sobald das Leben ein bisschen komplexer wird und vielleicht auch mal nicht so schön, stoßen wir an Grenzen.
Jede und jeder muss sich fragen: Was genau steckt für mich hinter dem Begriff Glück? Es gibt nicht das eine Glück, für das man nur einer Anleitung folgen muss und es sich dann zusammenbauen kann.
KNA: Sie sind eine dezidierte Kritikerin des Schulfachs Glück. Warum?
Hiller: Es ist nicht neu, dass Schulen sich mit Fragen des Glücks und des Glücklichseins beschäftigen. Ich weiß nicht, wie es in der Schweiz ist. Aber in Deutschland wird Glück unter anderem im Religions- und Ethikunterricht abgedeckt. Und dort ist das Thema auch sehr gut aufgehoben. Ein eigenes Schulfach Glück ist nicht nötig. Außerdem birgt es Gefahren.
KNA: Welche Gefahren meinen Sie?
Hiller: Hinter den Fächern Religion oder Ethik stehen Bildungspläne, die hohen Qualitätsstandards genügen. Die angestrebten Kompetenzen werden an Erkenntnisse aus der Wissenschaft gekoppelt und Bildungsplanentwicklung ist ein anspruchsvoller Abstimmungsprozess zwischen verschiedenen Expertinnen und Experten.
Auch die Lehrpersonen sind wissenschaftlich ausgebildet. Gleiches gilt für deren Fortbildung und den konkreten Unterricht, der auch den aktuellen, immer wieder wissenschaftlich reflektierten pädagogischen Standards entsprechen muss.
KNA: Und das ist bei Glück anders?
Hiller: Ja. Es gibt keinen von Kultusministerien herausgegebenen Bildungsplan und keine wissenschaftlich rückgekoppelte Ausbildung der Lehrpersonen. Es ist völlig unklar, welche Qualifikation eine Lehrperson haben muss, um Glück zu unterrichten. Man muss auch bedenken, dass hier weltanschauliche Fragen eine Rolle spielen.
KNA: Was meinen Sie damit?
Hiller: Der Religionsunterricht hat einen klaren Standpunkt. Er geschieht aus katholischer, evangelischer, jüdischer oder
muslimischer Perspektive. Es ist klar, aus welcher weltanschaulichen Ecke man Unterrichtsthemen angeht. Auch bei der Ethik gibt es einen klaren Bildungsplan, die Referenzwissenschaft des Schulfachs ist die wissenschaftliche Philosophie.
Bei Glück ist das anders. Hier ist alles sehr intransparent. Geht es um Yoga? Um Zen? Um gesunde Ernährung? Erlebnispädagogik? Oder von allem ein bisschen?
KNA: Sehen Sie in der Intransparenz ein Einfallstor für Sekten?
Hiller: Im Extremfall ja. Weil der weltanschauliche Hintergrund unklar ist und es auch keine verbindliche wissenschaftlich-fundierte Ausbildung gibt. Aber auch außerhalb eines solchen Extremfalls sehe ich Risiken für junge Menschen.
KNA: Nämlich?
Hiller: Ich sehe die Gefahr, Glück zu verzwecken und zu optimieren. Ich beobachte einen gesellschaftlichen Druck, immer gut drauf und glücklich sein zu müssen. Schauen Sie sich an, was Jugendliche auf Instagram und TikTok liken! Das sind strahlende, gutaussehende Menschen!
Das Schulfach Glück suggeriert: Ich kann auf jeden Fall glücklich sein. Aber was ist, wenn ich mal nicht glücklich bin? Habe ich dann versagt? Muss ich in jeder Situation glücklich sein? Auch vermittelt die Existenz des Schulfachs Glück den Eindruck, dass Glück machbar ist - ich kann Glück herstellen. Das widerspricht dem christlichen Hintergrund.
KNA: Inwiefern?
Hiller: Als Christin glaube ich nicht daran, dass ich mein Glück allein machen kann. Ich muss mich darauf verlassen können, getragen zu sein. Dass andere mir helfen, mein Glück zu finden. Vielleicht Gott. Vielleicht auch eine Gemeinschaft von Menschen.
Dem gegenüber suggeriert ein Schulfach Glück, dass Glück machbar ist. Wie ein Cocktail, den ich mixen und trinken kann. Dadurch entsteht ein Optimierungswahn, der den Druck aufbaut, dass wir auch glücklich sein müssen.
KNA: Das Schulfach Glück will Fähigkeiten wie Achtsamkeit und Resilienz vermitteln. Ist das nicht wichtig?
Hiller: Dies sind Fähigkeiten, die der moderne Religions- und Ethikunterricht durchaus abdeckt. Und zwar ohne Optimierungswahn. Der Deutschunterricht und andere Fächer übrigens auch. Der Bildungsplan für Berufsschule in Baden-Württemberg sieht vor: Das Thema Glück spielt in gleich mehrere der sieben Themenfelder hinein.
Das erste Themenfeld etwa befasst sich mit anthropologischen Bedingungen des Lebens. Wie gelingt individuelles Leben in seinen verschiedenen Formen? Es geht nicht um das Gelingen als Imperativ, sondern es geht um die verschiedenen Möglichkeiten des Gelingens.
KNA: Das Problem liegt also im Imperativ des Glücklichwerdens?
Hiller: Ja. Im Religions- und Ethikunterricht setzen sich Schülerinnen und Schüler kritisch mit der Sinnfrage auseinander und den Grundbedingungen für ein glückliches Leben. Aber es geht nicht darum, einfach etwas gut umzusetzen mit dem Ziel, dass man dann glücklich ist. Glück ist keine mathematische Gleichung.
Das Interview führte Annalena Müller.