DOMRADIO.DE: "Vaterunser - Gebet meiner Sehnsucht" ist gerade im Herder Verlag erschienen. Wie kommt man denn darauf, ein Buch über das Vaterunser zu schreiben?
Beatrice von Weizsäcker (Juristin und Publizistin): Das ist gar nicht so fernliegend. Es ist letztlich ein Gebet, das man von Kindesbeinen und von jedem Gottesdienst kennt. Mir ist es oft schon so gegangen, dass mir beim Mitbeten einzelne Sätze besonders aufgefallen sind. Es waren nicht immer dieselben, aber immer mal wieder. Ich habe mich gefragt: Was heißt das eigentlich? Was kann ich da eigentlich glauben? Kann ich es, wenn ich es nicht glaube, überhaupt mitbeten? So entstand die Idee. Dann hat mich das Thema Sehnsucht sehr beschäftigt. Und dann entstand in einem Brainstorming mit jemand anderem die Idee, diese beiden Elemente zu verknüpfen.
DOMRADIO.DE: Sehnsucht steckt ja auch im Untertitel, "Gebet meiner Sehnsucht". Was hat denn das Beten, konkret das Vaterunser, mit Sehnsucht zu tun?
Weizsäcker: Ich finde, dass es sehr viel damit zu tun hat. Wann betet man? Was ist ein Gebet? Ich bete aus Dankbarkeit, weil ich mir etwas erhoffe, wenn ich verzweifelt bin, wenn ich mich an Gott wenden will. Und das tut man doch im Vaterunser sehr stark, finde ich, wenn es um das Reich geht, den Willen, den Himmel, das Brot, die Schuld. Das sind doch Dinge, die mich jedenfalls nicht nur während des Gebets des Vaterunsers beschäftigen, sondern auch immer wieder zwischendurch.
DOMRADIO.DE: Wir beten auch "Dein Wille geschehe". Mal ganz persönlich gefragt: Vor wenigen Jahren wurde Ihr Bruder Fritz ermordet. Können Sie da überhaupt noch aus Überzeugung "Dein Wille geschehe" beten?
Weizsäcker: Nachdem das geschehen war, war diese Stelle für mich sozusagen zu Ende, weil es natürlich nicht sein konnte, dass das Gottes Wille war, dass diese Tat in Berlin geschah. Das hat mich wirklich aus der Bahn geworfen. Wie diese Tat bis heute für uns alle unbegreiflich ist, muss man leider Gottes sagen und auch immer unbegreiflich sein wird.
Aber dann ist mir komischerweise doch die Erkenntnis gekommen: "Dein Wille geschehe" heißt nicht im Umkehrschluss, alles, was geschieht, ist dein Wille. Das ist die alte Theodizee-Frage. Das hieße ja, dass Gott diesen Mörder nach Berlin geschickt hat. Der Gedanke daran, dass Gott etwas mit dieser Tat zu tun hat, ist vollkommen absurd für mich.
Seltsamerweise aber: "Dein Wille geschehe" habe ich ein bisschen wie ein Mantra gebetet. In mir hat das eine erstaunliche Kraft entfaltet. Ich habe "Dein Wille geschehe" auch auf mich bezogen, wie ich jetzt reagieren kann. Es gab mir Kraft, ich konnte mich kümmern. Ich merkte auch, dass Gott überhaupt nichts von mir verlangt. Er verlangte nicht, dass ich in die Kirche gehe, eine Kerze anzünden, bete oder sonst irgendwas. Und ich merkte, dass es offensichtlich nach meinem Glauben Sein Wille war, dass ich umgeben war mit Menschen, die mir halfen. Und das, finde ich, ist ein Teil von "Dein Wille geschehe". Nicht die Tat, aber was dann für mich an Hilfe kam.
DOMRADIO.DE: Das ist mit Sicherheit eine der herausfordernden Passagen in dem Gebet. Ähnlich wie "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern". Hat das überhaupt einen Platz im Gebet? Sie verstehen wahrscheinlich auch besser als andere, dass man gewisse Sachen einfach nicht vergeben kann, oder?
Weizsäcker: Ja, das ist eindeutig so, und diese Geschichte, die kann aus unserer Familie natürlich niemand vergeben. Ich habe lange darüber nachgedacht: Was heißt das eigentlich? Vergib' uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Heißt das, Gott vergibt mir nur, wenn auch ich vergebe? Ist das die Bedingung dafür, dass Gott mir vergibt? Nein, es bedeutet für mich: Vergib' mir meine Schuld, damit ich vergeben kann, damit ich mit mir ins Reine kommen kann.
Und gegenüber dem Täter spielt für mich die Frage der Vergebung keine Rolle. Für mich war wichtig, - das hat mir mein geistlicher Begleiter auch so erklärt - ihn nicht mein Leben beherrschen zu lassen. Und das ist auch ein Teil von Vergebung. Es ist zwar keine Vergebung, aber es ist ein Teil davon, mit mir ins Reine zu kommen, damit ich wieder an etwas anderes denken kann.
DOMRADIO.DE: Oder "Führe uns nicht in Versuchung". Führt uns Gott denn überhaupt in Versuchung, wenn er doch eigentlich ein guter Gott ist? Darüber wird ja seit Jahren schon diskutiert, ob es nicht eine bessere Formulierung dazu gibt.
Weizsäcker: Darüber habe ich auch lange nachgedacht und das glaube ich natürlich auch nicht. Papst Franziskus hat ja mal vorgeschlagen, wenn ich das recht im Kopf habe, zu beten: Lass' uns nicht in Versuchung geraten. Das finde ich viel besser. Das ist auch meine Übersetzung. Auch wenn man die Worte natürlich mit der Gemeinde zusammen spricht, ist das für mich immer: Lass' mich nicht in Versuchung geraten.
Und wenn ich in der Versuchung drin stecke, führe mich in der Versuchung, führe mich wieder heraus. Hilf mir, damit ich etwas machen kann. "Führe uns nicht in Versuchung" klingt für mich wie ein Elternteil, das bestraft oder belohnt. Und so ist Gott nach meiner Überzeugung natürlich gar nicht.
Das Interview führte Elena Hong.