DOMRADIO.DE: Frau Bittermann, Sie sind seit August 2020 im Land. Jetzt könnte man meinen, Lwiw (Lemberg) ist weit weg von der Front. Aber heute Morgen haben Sie auch in einem Luftschutzbunker gesessen. Was können Sie uns zur aktuellen Lage erzählen?
Henrike Bittermann (Caritas International): Aktuell ist die Lage natürlich besonders angespannt. Russland hat eine neue Offensive im Osten des Landes gestartet und insbesondere dort gibt es tägliche Angriffe. Aber auch im Rest des Landes gibt es immer wieder Luftalarm und die Menschen suchen Schutz in Luftschutzbunkern. Natürlich ist auch die Angst vor einem landesweiten Raketenangriff um den 24. Februar sehr, sehr groß. Die Caritas Ukraine, mit der wir hier zusammenarbeiten, hat als Vorsichtsmaßnahme die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufgefordert, womöglich im Homeoffice zu arbeiten und auch Reisen wurden ausgesetzt.
Aktuell ist natürlich die erste Frage, wo ist der nächste Luftschutzkeller, um auf den Alarm vorbereitet zu sein. Vorherige Angriffe auf kritische Infrastruktur im ganzen Land haben den Winter für viele Ukrainerinnen und Ukrainer sehr hart gemacht. Viele Stunden und Tage ohne Licht, Heizung und Wasser hinterlassen natürlich ihre Spuren. Das passiert auch hier im Westen des Landes. Dafür wurden zum Beispiel von vielen Städten oder im ganzen Land sogenannte Punkte der Unbesiegbarkeit aufgebaut, das sind Zelte, in denen Menschen sich aufwärmen und zum Beispiel ihre Handys laden können.
DOMRADIO.DE: In der Öffentlichkeit wird im Moment, so hat man das Gefühl, ein bisschen mantraartig wiederholt, dass die Ukraine aktuell die Freiheit des gesamten Westens verteidigt. Was erleben Sie denn, wie blicken die Ukrainer da momentan auf Deutschland? Sind Sie froh über die Unterstützung, die aus Deutschland kommt oder eher enttäuscht, dass das zu langsam vonstattengeht?
Bittermann: Ich würde sagen, das Bild von Deutschland hat sich im letzten Jahr langsam zum Positiven gewendet. Am Anfang gab es ganz klar eine große Enttäuschung darüber, dass die Zusicherung von Hilfen beziehungsweise die Hilfen hier ankommen zu lassen, sehr lange gedauert hat.
Inzwischen wird aber deutlich, dass auch die Ukrainerinnen und Ukrainer sehen, dass etwas passiert, dass Deutschland weiter an der Seite des Landes und den Bürgern des Landes steht und das insbesondere auch im Bereich der humanitären Hilfe. Ihnen ist klar, dass viele Organisationen dort sind und tun, was sie können, um das Land und die Bevölkerung zu unterstützen.
DOMRADIO.DE: Jetzt haben ganz viele Menschen das Land längst verlassen. Der Krieg hat fast acht Millionen Flüchtlinge ins Ausland geführt. Wie wird aus Ihrer Sicht denn mit Flüchtlingen in den Nachbarländern, zum Beispiel auch in Deutschland, umgegangen?
Bittermann: Die Solidarität der Menschen in den Nachbarländern war und ist noch extrem groß. Und das nicht nur, wenn es um Spenden geht, sondern auch wenn es darum geht, Menschen aufzunehmen und ihnen einen Start in einem anderen Land zu ermöglichen, sowohl in Deutschland als auch in den anderen Nachbarländern. Ich kann zum Beispiel aus Moldau berichten, wo ich selber nach meiner Evakuierung im Februar letzten Jahres aufgenommen wurde, wie herzlich und offen die Leute dort waren.
Moldau ist selbst das ärmste Land Europas und trotzdem hat es Leute aufgenommen. Dieses Land hat ähnliche Probleme wie die Ukraine. Sie haben ebenfalls Angst davor, dass der Krieg weiter eskaliert. Die Menschen dort sind selbst arm und versuchen das zu teilen, was sie können. Daher sind auch dort Hilfsangebote nötig, gerade was die Unterbringung von Geflüchteten angeht. Viele Gastfamilien haben ihre Türen geöffnet und das gilt auch für die anderen Nachbarländer, auch insbesondere für Deutschland.
DOMRADIO.DE: Wagen wir vielleicht einen Ausblick in die Zukunft. Ihr ganz persönliches Gefühl, haben Sie Hoffnung auf ein baldiges Ende dieses Krieges?
Bittermann: Es ist momentan sehr schwer, den weiteren Verlauf des Krieges einzuschätzen. Auf ein baldiges Ende ist gerade schwer zu setzen, glaube ich. Wir von Caritas International planen und arbeiten oder müssen in verschiedenen Szenarien arbeiten, gemeinsam mit unseren Partnern hier vor Ort, um auch weiterhin die bestmögliche Unterstützung für die Ukrainerinnen und Ukrainer leisten zu können.
Was für mich irgendwie in diesen doch teilweise sehr dunklen Zeiten immer wieder ein Lichtblick ist, sind auf jeden Fall die Menschen hier vor Ort, die unerlässlich Hilfe leisten und arbeiten, sich gegenseitig unterstützen und so sehr an ihr Land glauben. Deswegen ist es auch weiterhin wichtig, dass wir die Menschen in der Ukraine auch aus Deutschland und dem Rest von Europa unterstützen und uns solidarisch mit ihnen zeigen.
Das Interview führte Verena Tröster.