DOMRADIO.DE: Warum warnen Sie vor "Neuen Geistlichen Gemeinschaften"?
Prof. Dr. Hildegund Keul (Lehrstuhl für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg): Ich halte es für sehr wichtig, dass sich die Menschen, die sich in solchen "Neuen Geistlichen Gemeinschaften" bewegen, ihren kritischen Geist bewahren und auch durchgängig skeptisch auf die Gemeinschaft blicken.
Die Forschungen der letzten Jahre hat die Gefahren aufgezeigt. Gerade junge Menschen sind da einer höheren Gefahr ausgesetzt. Die Wahrscheinlichkeit, Missbrauch zu erleiden, ist in geistlichen Gemeinschaften und auch in charismatischen Bewegungen erhöht. Das betrifft sowohl Missbrauch geistiger oder auch spiritueller Art bis hin zu Missbrauch sexueller oder auch finanzieller Art, schlicht durch Ausbeutung von Geld, Arbeitskraft oder -zeit.
Die Problematik zeigt sich besonders gut bei der "Katholisch Integrierten Gemeinde", KIG. Ich erinnere mich selbst noch sehr gut an die Zeit. In den 1980er-Jahren ist die KIG gehypt worden. Ich habe in dieser Zeit selbst ein Semester in München studiert und dies direkt mitbekommen.
Die Menschen haben gedacht, da wird das wahre Christentum gelebt; da gehen Menschen an den Ursprung zurück. Dafür stand auch die Art, wie in der Gemeinschaft zusammengelebt wurde: Jung und Alt, Laien und Kleriker. Das galt als ein Paradies auf Erden und so wurde es auch dargestellt.
Jetzt ist bekannt, dass da Missbrauch in jeglicher Hinsicht stattgefunden hat. Deswegen ist die KIG 2020 in München aufgelöst worden. Die Menschen sind finanziell ausgebeutet worden. Betroffene müssen noch heute Altersarmut befürchten. Es ist sehr stark in die Leben eingegriffen worden, zum Beispiel ob und wen sie heiraten dürfen, ob und wann sie Kinder bekommen.
Das sind massive Manipulationen und auch nur die Spitze des Eisbergs. Daran ist aber zu sehen, wie gefährlich geistliche Gemeinschaften sein können, gerade wenn man unbedarft reingeht.
DOMRADIO.DE: Woran erkennt man missbräuchliche Gemeinschaften und Betroffene von geistigem Missbrauch?
Keul: Das sind verschiedene Punkte. Das kann zum Beispiel ein sehr hohes elitäres Bewusstsein sein. Also wir sind die Richtigen, die anderen sind die Falschen. Das gibt es auch im katholischen Bereich. In vielen Gemeinschaften ist der Missbrauch sogar systematisch integriert.
Zum Beispiel, wenn Kontakte zu Menschen außerhalb der Gemeinschaft, wie zur Familie, zu anderen Jugendgruppen, zu Beziehungen oder andere Kontakte, die schon lange bestehen, gekappt werden sollen. Das geht nicht von heute auf morgen. Das geschieht so nach und nach. Dafür werden Begriffe eingeführt, die Menschen außerhalb der Gemeinschaft schlecht machen. Zum Beispiel "Weltmenschen" oder andere. So werden Beziehungen gekappt und Betroffene immer mehr isoliert. Das ist hochgefährlich.
Es gibt ein eingängiges Bild dafür, was spirituellen Missbrauch ausmacht. Das ist der Marionettenspieler. Also eine charismatische Führungsfigur, die ganz wunderbar darstellen kann, wofür es diese Gemeinschaft, diese Bewegung gibt. Der ist dann so überzeugend, dass Menschen begeistert mitmachen. Der Marionettenspieler knüpft dann auf teils perfide Art und Weise nach und nach unsichtbare Fäden in Bezug auf die betroffene Person. Der Marionettenspieler zieht dann die Fäden und das kann sehr weitreichend sein.
Die Betroffenen werden irritiert und geraten immer mehr in eine Abhängigkeit. Das ist der Kern von spirituellem Missbrauch. Die Menschen vertrauen der charismatischen Führungsfigur sehr. Die Figur ist ein großartiger Mensch; weiß genau, wo es lang geht und was getan werden muss. Die Betroffenen sind dann voller Begeisterung und aus vollem Herzen heraus dabei.
DOMRADIO.DE: Das erinnert an Sekten. Wo ziehen Sie da eine Grenze?
Keul: Die Übergänge sind fließend. Es kommt sehr stark darauf an, wie sehr sich ein solcher Missbrauch in der Gemeinschaft etablieren kann, wie sehr das akzeptiert wird. Deswegen ist es wichtig, dem Thema präventiv zu begegnen.
Die geistlichen Gemeinschaften selbst müssen um diese Gefahr wissen, um die Gefahr bannen zu können. Da sind alle Beteiligten gefragt, die geistlichen Gemeinschaften selbst, einzelne Person in der Gemeinschaft und natürlich die Menschen - gerade auch junge, die in eine geistliche Gemeinschaft eintreten wollen.
DOMRADIO.DE: Warum sollte man gerade junge Menschen im Blick behalten?
Keul: Einfach, weil junge Menschen und Jugendliche per se begeisterungsfähig sind. Begeisterungsfähigkeit heißt, sich zu öffnen. In der Spiritualität spricht man sogar häufig von Herzensöffnung. Ein sehr starkes Bild. Wenn Menschen sich öffnen, sind sie verwundbar. Dann kann Zugriff erfolgen. Diese Begeisterungsfähigkeit bringt Menschen in diesem Überschwang dazu, Dinge zu tun, die sie ohne diese Begeisterung gar nicht tun würden.
Dazu kommen noch äußere Faktoren, die so einen Missbrauch begünstigen, wie zum Beispiel, dass junge Menschen noch nicht durch einen Beruf festgelegt sind oder sich in einer Phase der Neuorientierung befinden. Das hat grundsätzlich eine gefährliche Seite.
Man muss schlichtweg um die Gefahr wissen, um ihr begegnen zu können. Erwachsene sind natürlich auch betroffen. Es ist grundsätzlich wichtig, präventiv unterwegs zu sein, um Menschen vor Missbrauch zu schützen.
DOMRADIO.DE: Wie gehen diözesane Institutionen mit geistlichen Gemeinschaften um? Wird diese Gefahr im Blick behalten?
Keul: Ich hoffe doch. Es hat sich in den letzten Jahren einiges bei dem Thema geändert. Der spirituelle Missbrauch wird immer mehr Thema und es wird bekannter, wie gefährlich geistiger Missbrauch ist. In den Diözesen sind erste Anfänge zu sehen, die etwas dagegen tun wollen. Ich hoffe, dass dabei auch die Forschung wahrgenommen wird, die herausgefunden hat, wie gefährlich spiritueller Missbrauch ist.
Der Umgang mit dem Thema ist zurzeit noch sehr schwierig und stark verbesserungswürdig. Ein Beispiel: 2017 hat die Arbeitsstelle Jugendpastoral der Deutschen Bischofskonferenz eine Broschüre über die Jugendpastoral der geistlichen Gemeinschaften herausgegeben. Das war ein Lautsprecher und reine Werbung für die geistlichen Gemeinschaften. Es fehlte an kritischer Distanz und es wurde kein Versuch unternommen zu gucken, wo Gefahren liegen könnten.
Dabei wussten wir 2017 schon, dass Missbrauch eine hohe Gefahr ist. Trotzdem kommen die Themen sexueller Missbrauch, spiritueller Missbrauch und Gewalt überhaupt nicht vor. Das halte ich für fatal. An dieser Stelle muss ein Bewusstsein für die Gefahr vorhanden sein. Denn wer die Gefahr nicht sehen will, rennt umso stärker in sie rein.
Das Interview führte Dagmar Peters.