Es ist ein schweres historisches Erbe: Plastiken, die Juden diffamieren. Meist handelt es sich um "Judensäue", die im Mittelalter ihren Platz an den Wänden von Kirchen fanden, aber auch von Privathäusern oder Burgtoren. Besondere mediale Aufmerksamkeit bekam das Schwein des Anstoßes an der Wittenberger Stadtkirche, wo Martin Luther predigte. Ein Relief karikiert Juden als Menschen, die an den Zitzen des Tiers saugen und ihm in den After schauen.
Bundesverfassungsgericht soll entscheiden
Einzigartig macht den Fall, dass er seit vergangenem Sommer beim Bundesverfassungsgericht liegt. Seit 2018 kämpft ein jüdischer Kläger gerichtlich für die Entfernung, weil er die Darstellung als beleidigend empfindet; er unterlag jedoch in allen Instanzen.
Zuletzt entschied der Bundesgerichtshof (BGH), dass die Schmähplastik nicht entfernt werden muss.Durch eine Bodenplatte und einen Schrägaufsteller unterhalb des Reliefs sei das Schandmal in ein Mahnmal umgewandelt. Der Kläger legte Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Dort heißt es, eine Entscheidung sei zeitlich noch nicht absehbar.
Der Wittenberger Gemeindekirchenrat entschied sich unterdessen nach langer Debatte endgültig für den Verbleib der umstrittenen "Judensau" an der Außenfassade - gegen die ausdrückliche Empfehlung eines von ihm selbst einberufenen Expertengremiums. Allerdings soll die Mahnstätte nun überarbeitet werden.
48 ähnliche Abbildungen
Schmähplastiken dieser Art gibt es in ganz Europa. Das "Handbuch des Antisemitismus" weiß von 48 plastischen Abbildungen. Die Mehrzahl von ihnen sei stark verwittert oder beschädigt.
Das Motiv sei ab dem Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert reproduziert worden: auf Drucken, in antisemitischen Hetzschriften, auch auf Spielkarten. Im Laufe der Zeit seien die Varianten immer obszöner geworden. In der christlichen Ikonographie ist das Schwein ein Symbol für den Teufel, den Juden gilt das Tier als unrein.
In der gegenwärtigen Debatte um den Umgang mit diesen Darstellungen ist die Option "Entfernen" immer seltener mehrheitsfähig. Nicht zuletzt, weil der Reflex, unliebsame Zeugnisse der Vergangenheit zu eliminieren, zunehmend kritisch gesehen wird - nicht nur von Historikern und Denkmalschützern.
Zentralrat der Juden setzt auf Mahnstätten
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, sagte auf Anfrage: "Die Geschichte des kirchlichen Antijudaismus muss sichtbar bleiben, wenn nicht sogar sichtbarer werden. Das werden wir nicht durch das simple Entfernen judenfeindlicher Schmähplastiken erreichen."
Am ehesten sei eine museale Verwendung sinnvoll, zumindest eine historische Kontextualisierung durch sichtbare Installationen sei aber notwendig. "Ich begrüße daher die Weiterentwicklung von Mahnstätten, die über leicht übersehbare Erklärtafeln und Bodenplatten hinausgehen. Ich sehe es kritisch, wenn Kirchengemeinden sich aus der Verantwortung ziehen und keine eindeutige Verurteilung solcher Bildwerke vornehmen."
Neue Hinweistafel in Regensburg
Jüngstes Beispiel für einen neuen Umgang mit den Darstellungen: Zur "Judensau" am Regensburger Dom gibt es seit Ende Januar eine neue Hinweistafel. Sie bezeichnet die Schmähplastik als "zu Stein gewordenen Antisemitismus" und klärt in Deutsch und Englisch über deren Bedeutung auf. Damit distanzieren sich der Freistaat Bayern als Eigentümer der Kathedrale und das Bistum Regensburg als Nutzer von dieser judenfeindlichen Darstellung aus dem späten Mittelalter. Via QR-Code verweist die Tafel auf weitere Informationen hin.
Bei dem bayerischen Beispiel ist vor allem die Form ihres Zustandekommens bemerkenswert: Auf Initiative des bayerischen Antisemitismusbeauftragten Ludwig Spaenle (CSU) gab es in Regensburg einen Runden Tisch mit Vertretern der ortsansässigen jüdischen Kultusgemeinde, der katholischen Kirche und staatlichen Stellen. Entschieden wurde im Konsens. Daraufhin gab es ein Gespräch in ähnlicher Besetzung auf Landesebene. In Bayern gibt es laut Spaenle etwa 15 vergleichbare Objekte.
Alle Player an einen Tisch zu holen, hat angesichts des sensiblen Themas bereits einen Wert an sich, sagt der CSU-Politiker. Selbst wenn es dann keine solche Lösung geben sollte wie in Regensburg. An diesem "bayerischen Weg" hätten inzwischen auch einige andere Bundesländer Interesse gezeigt, sagt er.
Künstlerisches Gegendenkmal
Eine besondere Form der Kontextualisierung ist die künstlerische. So will die evangelische Kirchengemeinde in Zerbst (Sachsen-Anhalt) im kommenden Frühjahr in unmittelbarer Nähe zu einer "Judensau" von 1450 an der heutigen Ruine der Sankt Nicolai-Kirche ein "Gegendenkmal" als "sichtbares Zeichen gegen Antisemitismus" aufstellen.
Es ist eine 1,25 Meter hohe Granit-Stehle, versehen mit dem Bibelwort "Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde" sowie einem schwarzen Bronzeaufsatz. Darauf sind unter anderem Namen jüdischer Familien aus Zerbst aufgeführt, die Opfer des Nationalsozialismus wurden, sowie der Verfassungsgrundsatz: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."
Köln plant Kunstwettbewerb
Auch das Kölner Domkapitel hat sich auf diesen Pfad begeben: Ende 2020 kündigte es die Auslobung eines Wettbewerbs für ein zeitgenössisches Kunstwerk zum heutigen Verhältnis von Juden und Christen an. Eine Projektgruppe, unter anderem mit Vertretern des Domkapitels und der Synagogengemeinde, plane aktuell die Ausschreibung, kündigte Weihbischof Rolf Steinhäuser seinerzeit an.
Der Anspruch sei hoch, schließlich habe dieses Projekt Vorzeigecharakter. Es solle "eine Ansage unserer Zeit" werden, "ein großer Wurf". Doch offenbar tut man sich schwer damit in Köln: Auf Anfrage teilte der zuständige Medienreferent jetzt mit, dass der Wettbewerb "weiterhin in Planung" sei.
Figurenpaar in Bamberg
Ein Blick nach Bamberg. Dort, im Kaiserdom gibt es das problematische Figurenpaar "Ecclesia - Synagoga" gleich doppelt. Manche sagen zwar, die Synagoga sei die schönere Frau. Mit der Augenbinde und den zerbrochenen Gesetzestafeln steht sie indes unmissverständlich für eine Religion, die aus Sicht der christlichen Kirche abgewirtschaftet hat, vom Teufel verführt, der Verdammung preisgegeben.
Im Sommer 2021 fand eine Podiumsdiskussion in der Bamberger Uni statt. Die Judaistin Susanne Talabardon sagte, die Figurengruppe sei "das getreue Abbild der christlich-jüdischen Beziehungen vom 4. bis zum 20. Jahrhundert" - und plädierte dafür, als Korrektiv dazu ein Kontrast-Kunstwerk in Auftrag zu geben. So ließe sich veranschaulichen, wie die Kirche die Juden heute sieht.
Der Vorschlag fand unter den Mitdiskutanten großen Anklang. Ein Vorbild gibt es auch schon: Vor dem evangelischen Landeskirchenamt in Hannover hat der belgische Künstler Johan Tahon 2017 Kirche und Synagoge in einer Bronzeplastik als Zwillingsschwestern dargestellt.
Kritische Auseinandersetzung erforderlich
Im Erfurter Dom gibt es neben einer "Judensau" im Chorgestühl auch eine Ecclesia mit einer Synagoga am Portal. Bischof Ulrich Neymeyr kann sich ein künstlerisches Korrektiv für die beiden gut vorstellen.
Neymeyr, der zugleich Bischofskonferenz-Beauftragter für die Beziehungen zum Judentum ist, erklärte auf Anfrage: "Wir müssen uns als Kirche mit den Zeugnissen unserer antijüdischen Vergangenheit kritisch auseinandersetzen, ohne ihre Spuren einfach zu verwischen. Dazu gehört auch, die konkrete örtliche Wirkungsgeschichte solcher Darstellungen zu erforschen."
Daraus könnten sich etwa Erklärtafeln ergeben. "Noch besser ist es, darüber hinaus in derselben Kirche künstlerisch darzustellen, dass die katholische Kirche heute Jüdinnen und Juden als ältere Geschwister bezeichnet und dass Gott den Bund mit dem Volk Israel niemals gekündigt hat."
Gemeinsame Lösungen finden
Das Figurenpaar findet sich noch an weiteren Kathedralen in Deutschland: am Freiburger Münster, am Wormser Dom, an der Liebfrauenkirche in Trier. In Bamberg hat man sich auf einen Zehn-Punkte-Plan verständigt: Beide Statuen bleiben am Ort und werden mit Informationsmaterial in ihren historischen und kulturellen Kontext eingeordnet.
Es gibt Fortbildungen von Museums-, Dom- und Gästeführern, Sonderführungen und Vorträge, Flyer liegen in Touristinfos aus. Erarbeitet werden eine Lehrerfortbildung und Material für den Schulunterricht.
Welche Form des konstruktiven Umgangs mit dem zu Stein gewordenen Antisemitismus auch immer gewählt wird, auf eine Prämisse weist Neymeyr besonders hin: "Grundsätzlich ist es wichtig, dass vor Ort Lösungen gefunden werden und zwar gemeinsam mit den dort lebenden Jüdinnen und Juden, weil dies ein nötiger Schritt der lokalen Aufarbeitung ist."