DOMRADIO.DE: "Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient", sagte einst der französische Philosoph Joseph de Maistre. Du bist gerade in Albanien und hast uns geschrieben, dass du an diesem Satz zweifelst. Wieso?
Clemens Sarholz (Volontär bei DOMRADIO.DE): Albanien hat es bisher noch nicht geschafft, sich aus der Misere heraus zu kämpfen, die der Kommunismus dem Land gebracht hat. Albanien war von 1944 bis 1990 im Kommunismus, die meiste Zeit unter Enver Hoxha und das Land war völlig abgeschnitten von allen anderen in der Umgebung. Sogar zur UdSSR hat es irgendwann keine diplomatischen Beziehungen mehr gegeben. Die Menschen hatten bisher einfach nicht die Möglichkeit, demokratische Werte zu erlernen.
Ein Beispiel: Wir waren am ersten Tag in Tirana auf dem Skanderbeg-Platz mitten in der Stadt und Edi Rama, der Ministerpräsident, hat dort gesprochen. Dort standen Menschen mit Kameras von Fernsehsendern und ich habe auch meine Kamera draufgehalten. Sofort kamen Sicherheitsleute, die mir das Filmen verboten haben.
Es gibt nur wenige Medien im Land. Das Land ist auch sehr klein, es hat nur 2,8 Millionen Einwohner. Aber dafür hat der Staatschef 1,6 Millionen Follower auf Facebook. Und so erreicht er die Menschen.
Ein weiteres Beispiel: 1990 wurden die Schiffe versenkt, nachdem das System zusammengebrochen ist, damit die Leute nicht aus dem Land flüchten. Die Menschen haben nur wenige Chancen, sich aus diesem System selbst heraus zu emanzipieren. Das läuft nicht so gut.
DOMRADIO.DE: Die Reise dreht sich um die Zukunft der Arbeit im Land. Wie sieht es da aus?
Sarholz: Die meisten Menschen, mit denen wir hier gesprochen haben, wollen weg. Es fehlen unglaublich viele Arbeitskräfte, junge Menschen, die noch viel Energie haben; beispielsweise in der Tourismusbranche, in der Textilbranche.
Ein großes Problem ist auch die Gesundheitsversorgung. Die Ärzte wollen hier weg, weil die hier nicht so gut verdienen, obwohl sie gut ausgebildet sind. Wenn die alle gehen, dann ist auch keiner mehr im Land, der hilft, das mit aufzubauen.
DOMRADIO.DE: Und ein weiteres Problem ist ja die Korruption. Wie müssen wir uns das vorstellen?
Sarholz: Ich kann ja nur von dem sprechen, was die Leute mir erzählen. Aber die erzählen alle die gleichen Geschichten. Man kann sich beispielsweise an der Uni gute Noten kaufen. Es reicht auch nicht, wenn man gute Noten hat, um sich auf eine Stelle zu bewerben. Man braucht Vitamin B.
Die Menschen in Ämtern, beim Bußgeldamt oder beim Steueramt, die sollen sich einiges in die eigene Tasche wirtschaften, wenn sie dort an so eine Stelle gekommen sind. Die bleiben auch nicht lange auf diesen Stellen. Nach 6 bis 12 Monaten sind sie häufig weg.
Die Lehrer verdienen 450 bis 600 Euro, je nachdem wieviel Erfahrung sie haben. Aber die Lebenshaltungskosten, die sind nicht gering. Das heißt, man muss 300 Euro Miete zahlen, der Strom kostet für eine vierköpfige Familie etwa 100 Euro im Monat, dann kommt noch Schulgeld für die Kinder dazu, wenn sie nicht auf eine staatliche Schule geschickt werden sollen. Ein Kilogramm Schafskäse kostet hier 12 Euro und man muss fast korrupt werden, um hier überleben zu können. So wird es mir erzählt.
Einer, der uns hier bei der Reise begleitet, heißt Julian Priska. Er unterrichtet an der Universität Physik und er ist ein sehr gebildeter Mann. Der sagt: Die Menschen leben hier nicht in Würde, weil das System sie zur Korruption zwingt.
DOMRADIO.DE: Das Land steht im Beitrittsstatus zur EU. Dafür gab es auch gerade eine Justizreform. Hat die im Kampf gegen die Korruption nicht geholfen?
Sarholz: Richter, Staatsanwälte und Menschen, die in der Justiz arbeiten, wurden auf ihre persönliche Eignung und Integrität geprüft, aber zwei Drittel – so wurde uns hier gesagt – haben diesen Prozess nicht überstanden. Entweder weil gegen sie etwas gefunden wurde, oder weil sie sich der Prüfung entzogen haben und vorzeitig in Rente gegangen sind.
Und im Gesundheitssystem müsste es auch eine Reform geben. Krankenschwestern werden privat bezahlt, damit sie sich um die Menschen kümmern. Die Putzfrauen bekommen Geld dafür, dass sie die Zimmer sauber machen. Eine Hebamme hat uns erzählt, dass man im Krankenhaus Geld dafür nimmt, dass das Kind gewickelt wird. Medikamente werden gestreckt und die Mutter unserer zweiten Reisebegleiterin, Jola, wurde dreimal am Blinddarm operiert. Jede Operation hat die Familie wieder Geld gekostet. Die größte Sorge der Alten sei es, hier krank zu werden.
DOMRADIO.DE: Wie gehen die Menschen denn mit den Problemen um? Kriegst du da was von mit?
Sarholz: Die junge Generation haut ab und das ist ein großes Problem, weil die Wirtschaftskraft im Land sinkt und die Unternehmen keine Angestellten finden. Deswegen sind einige im Land auch gar nicht begeistert davon, wenn Politiker – wie kürzlich Markus Söder – nach Albanien reisen und um die Arbeitskräfte werben.
Wir haben hier aber auch schon mit einigen gesprochen, die im Ausland gearbeitet haben und zurückgekommen sind. Die kamen aus Luxemburg, Deutschland, Schweden, Frankreich und haben sich in Albanien ihr eigenes Geschäft, zum Beispiel als Gärtner, als Kunsthandwerker oder als Bäcker aufgebaut. Die versuchen alles zu tun, damit sie nicht mit der Regierung zusammenarbeiten müssen.
DOMRADIO.DE: Der Politik wird in Albanien mit Misstrauen begegnet, im Unterschied zur Kirche. Die genießt ein großes Vertrauen. Woran liegt das?
Sarholz: Von 1967 bis 1990 war es unter Strafe verboten, seine Religion auszuüben. Das konnte sogar mit der Todesstrafe geahndet werden. Und dadurch haben sich zum Beispiel auch Leute Plakate von Maria oder Kreuze zu Hause eingemauert, um sie zu verehren, aber so, dass es keiner sieht, dass sie ihre Religion ausüben.
Die Kirche selbst wurde vom kommunistischen Regime verfolgt und hat sich auch nichts zuschulden kommen lassen. Es gibt hier viele kirchliche Identifikationsfiguren. Bilder von Mutter Teresa, die im heutigen Nordmazedonien geboren ist, hängen hier überall an jeder Ecke. Und die Menschen sind stolz auf diese Frau.
Alle, mit denen wir hier sprechen, sagen, dass die Kirche sie niemals belogen oder aufgegeben hat. Viele Priester hier kommen aus Italien, das heißt, sie kamen erst nach 1990 und so hat dieses System der Korruption sie nicht eingenommen.
Die christlichen Schulen sind sehr viel beliebter als die staatlichen Schulen. Die Schüler sagen, weil es dort sicherer ist, weil die Schulen strenger sind, wenn man sich dort an die Regeln hält. Und was ich auch sehr spannend gefunden habe: Sogar die korrupten Politiker wollen ihre Schüler auf diese Schulen schicken.
DOMRADIO.DE: Welche Hoffnung haben denn die Menschen im Land?
Sarholz: Die Menschen hoffen unter anderem auf die EU. Albanien hat ja seit 2014 offiziell den Beitrittsstatus. Die Digitalisierung soll auch schon etwas verbessert haben. Dadurch, dass viel online erledigt werden muss, kann man Amtsprozesse nicht mehr so leicht korrumpieren. Eine Hoffnung liegt sicherlich auch in den vielen Menschen, die sehr engagiert sind im Land. Aber sogar die sagen, dass es schwierig ist.
Das Interview führte Katharina Geiger.