Am Mittwoch nach Ostern veröffentlichte das vatikanische Presseamt ein neues päpstliches Gesetz, ein Motu Proprio. Manche Vaticanisti quittierten die Nachricht mit einem Schulterzucken. Die meisten haben längst aufgehört zu zählen, wie viele solcher Gesetze Papst Franziskus in den zehn Jahren seines Pontifikats bereits erlassen hat. Kein anderer Pontifex hat so oft Gesetzestexte geändert, und auch die vatikanische Medienabteilung hat es aufgegeben, jedes neue Regelwerk im Detail vorzustellen und zu erläutern.
Doch die jüngste Gesetzesänderung enthält wichtige Änderungen für die Entwicklung des Rechts im Vatikan. Die erste betrifft die Rolle des Staatsanwalts, der im vatikanischen Recht "Promotore di Giustizia" (Förderer der Gerechtigkeit) heißt. Im neuen "Gesetz über die Justizordnung des Vatikanstaats" - eine Art Strafprozessordnung - wird künftig dessen Rolle explizit benannt: Die Rechtsprechung obliegt, wie bereits seit 2020, dem vatikanischen Gericht und seinen zwei Berufungsinstanzen. Die Funktionen der Ermittlung und der Anklage liegen - und das ist neu im Gesetzestext - beim "Promotore di Giustizia".
Mit dieser scheinbar kleinen Änderung rückt das Gerichtswesen im kleinsten Staat Europas abermals einen Schritt näher an rechtsstaatliche Prinzipien, wie sie in der westlichen Welt seit langem gelten. Diese Neuerung wird aber erst wirklich relevant durch eine weitere Reform, die im nächsten Absatz enthalten ist. Sie kommt einer vorsichtigen Revolution gleich. Im alten Gesetzestext von 2020 hieß es noch ziemlich widersprüchlich: "Die Richter und Staatsanwälte unterstehen hierarchisch dem Papst. In der Ausübung ihrer Ämter sind sie allein dem Gesetz unterstellt." Nun lautet der neue Artikel 2 der vatikanischen Strafprozessordnung: "Die Richter und Staatsanwälte werden vom Papst ernannt und sind in der Ausübung ihrer Ämter allein dem Gesetz unterstellt."
Kritikern wird Wind aus den Segeln genommen
Indem Ermittlung, Anklage und Rechtsprechung nicht mehr der Hierarchie sondern allein dem Gesetz unterstellt werden, wird jenen Kritikern Wind aus den Segeln genommen, die angesichts der seit einigen Jahren deutlich aktiver gewordenen vatikanischen Justiz angemerkt hatten, dass Gerichtsprozesse im Staat des Papstes letztlich eine Farce seien. Denn ein Prozess wie jener gegen Kardinal Angelo Becciu, der seit Monaten unter anderem wegen Veruntreuung von erheblichen Geldsummen vor dem vatikanischen Gericht steht, werde immer dann an unüberwindbare Grenzen stoßen, wenn gegen die höchsten Stellen im Vatikan ermittelt werden müsste. Eine wirklich unabhängige Justiz könne es nicht geben, da sie ja dem Papst unterstellt sei.
Insofern war schon allein die Tatsache, dass Becciu der Prozess gemacht wurde, eine unerhörte Neuheit in der jüngeren Geschichte des Vatikans. Denn in seiner Funktion als "Substitut" des Papstes konnte Becciu qua Amt viele Entscheidungen mit impliziter päpstlicher Vollmacht treffen - und so lange Zeit unkontrolliert agieren, Millionen riskant investieren, Geld abzweigen und stets interne Bedenken im Apparat übergehen. Der Schaden, den er damit anrichtete, war so groß, dass der Papst ihn seines Amtes enthob und mit einem Federstrich auch Beccius Privilegien als Kardinal aufhob. Die Anklage gegen ihn war ein Meilenstein.
Würde die Revolution in Richtung Rechtsstaatlichkeit, die der Papst damit und mit seiner jüngsten Gesetzesänderung angestoßen hat, bis zum Ende gedacht, könnte der vatikanische Staatsanwalt eines Tages auch gegen den Kardinalstaatssekretär und den Papst selbst ermitteln. Sollte dieser dann einer Straftat überführt werden, greift allerdings ein Artikel aus dem allgemeinen Kirchenrecht (Canon 1404), der in fünf Worten klar macht, dass der Papst - immerhin ist er Monarch, oberster Richter und alleiniger Gesetzgeber - nicht verurteilt werden kann: "Prima sedes a nemine iudicatur" (Der erste Sitz kann von niemandem gerichtet werden). Diesen Anspruch erheben die römischen Päpste seit etwa 1.500 Jahren, in der heutigen Formulierung wurde er 1917 rechtlich festgeschrieben.
Neues Gesetz bringt auch Schwierigkeiten für den Vatikan
Dass er den päpstlichen Jurisdiktionsprimat - auch jenen im Vatikanstaat - nicht aufgeben will, machte Papst Franziskus deutlich, indem er bei seiner jüngsten Gesetzesänderung an der Formel festhielt, dass "die rechtsprechende Gewalt im Vatikanstaat im Namen des Papstes ausgeübt wird." Doch in welch schwere Gewässer der Papst den Vatikan mit seiner Annäherung an rechtsstaatliche Prinzipien dennoch bringen kann, machte ein spektakulärer Vorfall deutlich, der sich just in der Woche der Veröffentlichung des neuen Gesetzes ereignete.
Er betrifft den Fall Emanuela Orlandi. Der neue vatikanische Staatsanwalt Alessandro Diddi hatte unlängst kundgetan, dass er alles tun werde, um endlich Licht in den rätselhaften Fall des vor 40 Jahren verschwundenen Mädchens zu bringen. Papst Franziskus unterstütze ihn ausdrücklich bei diesem Vorhaben. Doch prompt wartete am Osterdienstag der Bruder der Verschwundenen in einer acht Stunden dauernden Zeugenvernehmung und anschließenden Medienauftritten mit Verdächtigungen auf, die bis an die Vatikanspitze heranreichten.
Zwar betrafen sie einen toten Papst (Johannes Paul II.) und entbehrten offensichtlich jeder Faktengrundlage. Doch mit einem Schlag ließ sich erahnen, was es bedeuten könnte, wenn jemand beim vatikanischen Staatsanwalt einen lebenden Papst einer Straftat beschuldigen würde. Denn im Medienzeitalter gehört zum Umfeld eines Ermittlungsverfahrens und eines Strafprozesses auch alles, was zu einem Fall öffentlich gesagt und publiziert wird.
Öffentliche strafrechtliche oder zivilrechtliche Beschuldigungen gegen frühere Päpste sind - wie bereits im Fall Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. zu studieren war - in den Rechtssystemen außerhalb der Kirche längst kein Tabu mehr. Auch deshalb gibt es im Vatikan derzeit viele, die, wie der kirchliche Kinderschutzexperte Hans Zollner am Montag zu einem anderen Bereich kirchlicher Rechtsprechung anmerkte, die "gute alte Zeit" zurückwünschen, in der Rechtsbrüche und Straftaten nicht gemäß den Prinzipien eines Rechtsstaates, sondern kirchenintern und ohne öffentliche Aufmerksamkeit geregelt wurden.