KNA: Fast drei Jahre sind vergangen seit der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut, unweit Ihres Klosters. Wie geht es den Menschen heute?
Pater Jihad Krayem (Vorsteher des Franziskanerklosters Sankt Joseph im Beiruter Innenstadtviertel Gemmayzeh): Seit der Explosion stehen die Menschen in Beirut vor zwei schweren Problemen - wenn nicht mehr: zum einen die psychologische Situation. Bis heute ist keine Gerechtigkeit hergestellt.
Niemand weiß, warum das geschah und wer dafür verantwortlich ist. Das macht es sehr schwer, das Geschehen zu überwinden. Dazu kommt die wirtschaftliche Lage, die nicht nur Beirut, sondern alle Libanesen trifft. Menschen sind zu Bettlern geworden, darunter jene, die Geld auf den Banken haben, aber nicht drankommen.
KNA: Und wie geht es der Stadt?
Krayem: Jeder versucht aufzubauen, was zerstört wurde; aber die Lage ist sehr schwierig. Es gibt weiterhin einige Häuser und Geschäfte, die noch nicht wieder aufgebaut worden sind. Viel schlimmer ist aber der immaterielle Verlust. Die Menschen haben Erinnerungen verloren.
Trotz des Wiederaufbaus von Häusern bleibt die innere Wunde, weil die Erinnerungen nicht ersetzt werden können. Dazu kommen jene, die bei der Explosion verletzt wurden oder einen Menschen verloren haben. Die Menschen leben weiter im Leid; besonders, weil, wie gesagt, keine Gerechtigkeit geschehen ist.
KNA: Heute scheint die Stadt gedämpfter als vor der Explosion.
Krayem: Die Stadt ist dunkler und ruhiger als früher. Das liegt zum einen am Strommangel. Gegenwärtig bekommen die Menschen täglich höchstens vier Stunden Strom, in zwei Schichten; oft sind es weniger.
Die restliche Zeit versuchen sie, sich mit Generatoren in den Nachbarschaften zu helfen. Gleichzeitig sind die Menschen nicht mehr so glücklich wie früher, auch jene nicht, die noch ausreichend Geld haben.
KNA: Wie schlägt sich das in Ihrer Pfarrei nieder?
Krayem: Wir spüren es deutlich, vor allem bei den jungen Menschen. Sie sehen hier keine Zukunft. Während die Jugend andernorts darüber nachdenkt, ein Haus zu kaufen, eine Arbeit zu finden und eine Familie zu gründen, versucht unsere Jugend herauszufinden, wie sie das Land verlassen kann.
Viele sind schon gegangen oder kommen vom Auslandsstudium nicht zurück. Sie lieben ihre Familien und den Libanon, sehen aber keine Möglichkeit zu bleiben. Unser Hilfswerk Pro Terra Santa unterstützt mit verschiedenen Programmen, etwa Lebensmittelhilfe, Unterstützung bei Schul- und Universitätsgebühren oder Kunsttherapie.
In Kürze öffnen wir auch eine Medikamentenausgabe.
KNA: Was erhoffen Sie sich von der Politik?
Krayem: Eine Verbesserung der Wirtschaft; aber dafür bräuchte es Veränderungen in der Regierung. Bislang sehe ich da wenig Hoffnung.
Unsere Politiker sind weiter in ihren Ämtern und haben ihr Denken nicht verändert. Sie haben keine neuen Strategien. Daher ist auch die Neuwahl eines Präsidenten unmöglich.
KNA: Wird sich die Lage weiter verschlechtern?
Krayem: Für einige Menschen sicher. Die Armen werden immer ärmer. Ein Gehalt von einer Million libanesischen Pfund war vor drei Jahren etwa 700 Dollar wert; heute sind es weniger als 10 Dollar.
Die Kirchen und viele andere tun ihr bestes zu helfen; aber angesichts der großen Not ist das sehr wenig. Der maronitische Patriarch, Kardinal Bechara Rai, will Richtung geben und ruft die politische Führung und insbesondere die christlichen Politiker auf, besser zu werden. Bislang antwortet aber niemand.
KNA: Haben Sie Angst vor einem weiteren Niedergang?
Krayem: Wir werden immer überleben. Aber es wird viele Opfer geben. Die Lebensqualität im Libanon wird sich weiter verschlechtern, vor allem bei den Krankenhäusern.
Schon heute beten Menschen, dass sie kein Krankenhaus benötigen, weil die teuer sind und in schlechtem Zustand. Wir Franziskaner kämpfen dafür, den Menschen etwas Freude zu bringen, Hoffnung zu erhalten und sie dazu zu bringen, für ein besseres Leben zu kämpfen.
Der Herr wird uns nicht verlassen, sondern uns weiter Gründe geben, für die es sich lohnt zu leben, zu glauben und einander zu helfen - auch wenn man selbst nichts hat.
Das Interview führte Andrea Krogmann.