Drei Perspektiven zur Arbeitsmigration aus Albanien

Es fehlt an Geld, Jobs und Hoffnung

Renovabis lenkt mit der Pfingstaktion "Sie fehlen. Immer. Irgendwo." die Aufmerksamkeit auf die Arbeitsmigration aus Osteuropa. Eine Recherche dazu aus drei Perspektiven in Albanien, einem der ärmsten Länder Europas.

Autor/in:
Clemens Sarholz
Zwei Frauen gehen über eine alte Brücke in Tirana (Albanien) / © Alessio Mamo (KNA)
Zwei Frauen gehen über eine alte Brücke in Tirana (Albanien) / © Alessio Mamo ( KNA )

​Ein gewöhnlicher Dienstagabend in Tirana, der Hauptstadt Albaniens: Die Bar in der Nähe des Skanderbek-Platzes ist gut besucht. Die Musik ist etwas zu laut und es dauert ein bisschen, bis sich die Ohren daran gewöhnt haben. Der Tisch steht voll mit Fleisch und Wein. Die Menschen unterhalten sich. Unter ihnen sind einige, die ihre Geschichten erzählen möchten.

Sie handeln von der Geschichte des Landes, von Geld oder vielmehr davon, dass es keins gibt. Sie handeln von der Korruption, die das Leben bestimmt und von jungen Menschen, die so schnell wie möglich Albanien verlassen möchten.

Einer von ihnen ist Malbor Duka. Der 26-jährige ist Urologe und möchte gerne nach Deutschland reisen, um dort zu arbeiten. "Ich bin an einem Punkt, an dem ich eine Entscheidung treffen muss", sagt er mit leiser Stimme. Er hat kaum noch Haare auf dem Kopf und trägt einen kurzen dunklen Bart.

Malbor Duka / © Damian Raiser (privat)
Malbor Duka / © Damian Raiser ( privat )

Wie viele andere in Albanien hat er "wegen der Korruption" wenig Hoffnung. Wie äußert sich die? "An der Rezeption im Krankenhaus musst du für Informationen bezahlen", sagt er. Medikamente würden gestreckt, um mehr davon zu verkaufen. Dem Putzpersonal müsse Geld gegeben werden, um die Zimmer ordentlich zu hinterlassen und um die Mülleimer auszuleeren. "Alltag", sagt er.

Daher nennt man diese Form der Korruption in Albanien auch gerne "Dienstleistung". Als Assistenzarzt bekommt er 500 Euro im Monat. Um in Tirana leben zu können, benötigt er die finanzielle Unterstützung seiner Eltern.

Die dicken Autos sind Insignien der Mafia

Für den, der von außen kommt, ist die Korruption nicht direkt sichtbar. Die Straßen in der Nähe des Stadtkerns sind gepflegt, die Fassaden modern, die Parks leuchten in saftigem Grün und auf den Straßen sieht man viele dicke Autos von Mercedes.

Eine Bar liegt neben der anderen und das Leben auf der Straße pulsiert. "Aber geh mal nur zwei Kilometer vom Stadtkern weg", sagt Duka. Dort gebe es schon Probleme mit der Wasserversorgung, mit dem Strom und auch mit der Hygiene. Die dicken Autos, sagt er, sind Insignien der Mafia.

Duka hat sich in der Vergangenheit schon öfter kritisch geäußert. Im Fernsehen, im Radio oder in Magazinen macht er auf die schwierige Situation des Landes aufmerksam. Es gibt viele Gründe für ihn, Albanien zu verlassen. Die Regierung, sagt er, tue nichts, um Albanien zu entwickeln. Für verantwortungsvolle Posten brauche es Vitamin B oder Geld, um Menschen zu bestechen.

So gebe es für ihn auch kaum die Möglichkeit, sich als Arzt weiterzuentwickeln oder Personalverantwortung zu übernehmen. Deswegen hat er den gleichen Traum, wie viele andere in dem Westbalkanland. 85 Prozent aller Albaner wollen das Land verlassen. Der weitaus größte Teil will nach Deutschland. "So, wie es in Deutschland dazu gehört, das Elternhaus irgendwann zu verlassen, gehört es in Albanien dazu, im Ausland Erfahrungen zu sammeln", sagt der Arzt.

Er hat Deutsch gelernt, um die Möglichkeit zu haben, in Deutschland zu arbeiten. Er hat auch versucht, im Ausland zu studieren. Der Versuch ist aber an Problemen mit seinen Dokumenten gescheitert. Weil es aber vielen Albanern so geht wie Duka, nehmen viele Menschen gefährliche Fluchtrouten auf sich, um über Frankreich nach England zu gelangen. Das sind Reisen, die von Schleppern durchgeführt werden.

Diejenigen, die es versucht haben

Ein Mittwochmittag in Lezha, Albanien: Es gibt viele, die das Land verlassen wollen. Atlant Kudeli ist einer von denen, die schon mal weg waren. Er hat im Ausland gearbeitet. In Luxemburg, in Deutschland. Aber er hat es nicht geschafft anzukommen. Für viele, sagt er, ist das Zurückkommen mit Versagen verbunden. Wer die Chance hatte, aber aus dieser wie bei einer Glückslotterie nichts geworden ist, der kommt häufig mit einem Schamgefühl zurück.

Atlant Kudeli / © Damian Raiser (privat)
Atlant Kudeli / © Damian Raiser ( privat )

Heute ist Kudeli Bäcker. Doch er habe Glück, sagt er. Er sei jung, erst 28, ohne Verantwortung für eine Familie, die er zu ernähren hätte. Bei anderen sehe das anders aus.

Spricht man mit den Menschen in Albanien, kommt eine spezielle Angst immer wieder zum Vorschein. Die Angst davor, im Ausland nicht angenommen zu werden, so wie das anderen schon passiert sei. Familien, die mit Kindern nach Deutschland gereist seien, sagt er, hätten Probleme gehabt, in die Gesellschaft integriert zu werden.

Die Kinder ohne gute Deutschkenntnisse kämen auf die Hauptschule. Dort werde man "einfach nur behandelt wie ein Ausländer". Es sei nicht leicht, in die Gesellschaft mit aufgenommen zu werden. Wer es nicht schafft, der komme zurück und schämt sich für sein "Versagen", so heißt es.

Mit Hilfe der Kirche

Kudeli ist Bäcker mit eigener Filiale. Er steht an seinem Ofen in einem kleinen Laden in Lezha. Gegenüber seines Geschäfts gibt es den "München Döner". Es riecht nach Margarine, die er für Börek mit Spinat und Käse verwendet. Außerdem gibt es Pizza und Brot. Seinen Traum, ein Unternehmer zu sein, hat er sich durch ein spezielles Programm erfüllt - "YourJob" heißt es.

Das Osteuropa-Hilfswerk Renovabis, die Caritas und die Diözese Lezha stecken dort Geld und Energie rein, um die Menschen zum Bleiben zu bewegen und um ihnen Perspektiven zum Auswandern zu ermöglichen. Mit dieser Unterstützung konnte er sich den Ofen erst leisten. In den nächsten Jahren, sagt Kudeli, will er weitere Filialen eröffnen, obwohl es schwierige Zeiten in seinem Unternehmen gibt. Im Sommer laufe das Geschäft gut, aber im Winter sei es nicht so leicht.

Seine Bäckerfiliale liegt in der Nähe des Adria-Strands. Überall stehen leere Gebäude und der Sound von Bohrmaschinen erfüllt die Luft. Hier und da sind Menschen auf dem Bau und arbeiten. Wieso alles leer steht und doch gebaut wird? "Spekulationsobjekte und Geldwäsche", sagt Kudeli.

Er selber habe mit der Korruption im Land nichts zu tun, ergänzt der Bäcker. Er halte sich von ihr fern. Genauso wie er sich von einer Zusammenarbeit mit dem Staat fernhalte. Ob er irgendwelche Unterstützung in den harten Monaten bekommt? Er zeigt eine Null mit seinen Fingern und blickt dabei mit großem Auge hindurch.

Die, die bleiben wollen

Ein Donnerstag in Rreshen, Albanien: Und dann gibt es noch eine weitere Gruppe von Menschen. Diejenigen, die jung sind und im Land bleiben wollen. Diejenigen, die nicht auswandern wollen. Da steht eine Gruppe von Schülern auf dem Schulhof der "St. Joseph, der Arbeiter"-Berufsschule. Einer sagt: "Natürlich will ich hier weg. Hier fehlt es an Geld, an Jobs und an Hoffnung."

Sie sprechen Englisch. Wieder geht es um Korruption und um die Ausweglosigkeit im Land. Es geht wieder darum, wer das Land aus welchen Gründen verlassen möchte und auch um die Träume, die sie vom Ausland haben. Einer möchte Chirurg in den USA werden. Andere wollen lieber Automechaniker in Deutschland sein.

Aber da ist eine Schülerin, die einen anderen Plan hat. Sie nennt ihren Namen nicht, aber sie sagt: "Ich will hier bleiben und das Land mit aufbauen." Sie wolle mal Anwältin werden und die Korruption von innen heraus bekämpfen, den Menschen wieder eine Perspektive geben, um dort zu bleiben. Neben der Gruppe auf dem Schulhof stehen Getränke- und Süßigkeitenautomaten, die durch Käfige vor Vandalismus geschützt werden. "Wo soll es denn hinführen, wenn alle jungen Menschen abhauen?", fragt die junge Frau.

Schaut man sich die Geburtenrate von Albanien an, fällt der immense Rückgang auf. Während es in den 1960er Jahren noch sechs Geburten pro Frau gewesen sind, fiel die Rate im Laufe der Zeit auf 1,32 im Jahr 2021. Eine Volkszählung ist zwar erst für September geplant, aber die demografische Krise zeigt sich schon längst.

Im vergangenen Jahrzehnt haben über 700.000 Menschen das Land verlassen. Dadurch hat Albanien 37 Prozent seiner Bürger durch Auswanderung verloren. Die Überalterung der Gesellschaft ist die Folge. Somit fehlt auch die Energie, um die Lebensqualität im Land zu verbessern.

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Warum sie trotzdem bleiben möchte? Die junge Frau schwärmt vom Land, von der Geschichte Albaniens. Davon, wie Albaner im Zweiten Weltkrieg Juden beschützt haben, von der Gastfreundschaft, der fruchtbaren Landschaft, der Resilienz der Einwohner, dem Essen und von all dem, womit sie sich als Albanerin identifiziert.

Die meisten Menschen schmerze es sehr, sagt sie, dass sie ihre Familien zurücklassen müssen, dass sie ihre Eltern verlassen müssen, ihre Geschwister verlassen müssen. "Die Menschen verlassen das Land ja nicht, weil sie es nicht mögen", betont sie.

Renovabis

Renovabis ist das jüngste der sechs katholischen weltkirchlichen Hilfswerke in Deutschland. Es wurde im März 1993 auf Anregung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) von den deutschen Bischöfen gegründet. Seither gibt es jedes Jahr eine mehrwöchige bundesweite Aktion. Sie endet jeweils am Pfingstsonntag mit einer Kollekte in den katholischen Gottesdiensten in Deutschland.

Der lateinische Name des Hilfswerks geht auf einen Bibelpsalm zurück und bedeutet "Du wirst erneuern".

 © Renovabis
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Quelle:
DR