Vor zehn Jahren nimmt St.-Pauli-Pastor Geflüchtete auf

"Ich bin meinem Gewissen gefolgt"

Eine Kirche im Hamburger Stadtteil St. Pauli hat vor zehn Jahren rund 80 afrikanische Geflüchtete aufgenommen. Pastor Sieghard Wilm lud sie in die Kirche ein, in der Erwartung, dass sie wenige Nächte bleiben. Es wurden Monate.

Symbolbild Hand eines Migranten hinter Maschendrahtzaun  / © Jens Büttner (dpa)
Symbolbild Hand eines Migranten hinter Maschendrahtzaun / © Jens Büttner ( dpa )

DOMRADIO.DE: Was hat Sie denn vor zehn Jahren dazu bewogen, den obdachlosen Flüchtlingen die Kirche zu öffnen? 

 Sieghard Wilm, Pastor der St.Pauli Kirchengemeinde, sitzt vor seinem Pastorat auf dem Pinnasberg / © Markus Scholz (dpa)
Sieghard Wilm, Pastor der St.Pauli Kirchengemeinde, sitzt vor seinem Pastorat auf dem Pinnasberg / © Markus Scholz ( dpa )

Sieghard Wilm (Evangelischer Pastor der St. Pauli KIrchengemeinde in Hamburg)): Das war eine ganz spontane Reaktion. Ich wusste von der Not der Männer auf der Straße. Unser diakonisches Werk hat versucht, ihnen eine Unterkunft zu besorgen. Das ist durch die Intervention der Stadt nichts geworden. Der Innensenator wollte, dass alle erkennungsdienstlich behandelt werden.

Das passte auch nicht mit dem diakonischen Anliegen zusammen, den Menschen in die Gesichter zu schauen und zu fragen, was sie in ihrer Not brauchen. Sie waren hungrig, durstig, hatten keinen Schlaf, keine Sicherheit und keine Perspektive.

Sie standen am 2. Juni 2013 vor der Tür und es fing an zu regnen. Das war der Punkt, an dem ich dann dachte, draußen können sie jetzt nicht schlafen, also mache ich die Kirche auf.

DOMRADIO.DE: Der Plan war, dass die Männer ein, zwei Nächte in der Kirche bleiben, weil sich dann die Stadt um sie kümmert, richtig?

Wilm: Ich ging fest davon aus, dass die Stadt sagt "Toll, dass ihr das als Kirche jetzt gerade macht, aber wir sind zuständig, uns zu kümmern." Aber nichts geschah. 

DOMRADIO.DE: Es gab damals eine große Protestaktion von insgesamt 300 Geflüchteten für ein dauerhafte Bleiberecht, mit denen sich viele Menschen und Gruppierungen dann auch solidarisierten. Waren Sie Teil der Proteste?

Sieghard Wilm

"Ich konnte es nachvollziehen, habe mich da aber nicht an die Spitze gestellt. Die Männer können für sich selbst reden. "

Wilm: Ich habe immer meine Aufgabe als Pastor darin gesehen, für die humanitäre Nothilfe zuständig zu sein. Ich konnte aber die Proteste verstehen. Ich finde es gut, dass Menschen, die keine Perspektive haben, auch laut werden und nicht komplett verstummen, wie es viele tun.

Ich konnte es nachvollziehen, habe mich da aber nicht an die Spitze gestellt. Die Männer können für sich selbst reden. 

Demo für Flüchtlingsrechte 2014 in Hamburg / © Stephan Wallocha (epd)
Demo für Flüchtlingsrechte 2014 in Hamburg / © Stephan Wallocha ( epd )

DOMRADIO.DE: Ab wann war denn Ihre christliche Nächstenliebe und vielleicht auch die ihrer Gemeinde ausgereizt? Konnte man noch Gottesdienste feiern? 

Wilm: Diese Kirche war noch nie so sauber wie in dieser Zeit. Die Männer wollten alle auch etwas tun und man hat sich geradezu um den Putzdienst gerissen. Die Kirche war blitz und blank.

Wenn wir Gottesdienst oder Hochzeiten gefeiert haben, dann wurde alles aufgeräumt, die Matten wurden zusammengerollt, verstaut und der Kirchsaal wurde ganz normal mit Stühlen bestellt. Das kirchliche Leben ging weiter.

Aber in der Kirche haben die Männer eben auch geschlafen, gegessen und hatten Deutschunterricht. 

DOMRADIO.DE: Der Hamburger Senat hat schließlich eingelenkt. Es gab Einzelfallprüfungen, viele Männer durften bleiben. Haben Sie dann je wieder was von den Geflüchteten gehört? Gibt es vielleicht sogar immer noch Kontakte?

Sieghard Wilm

"Deswegen treffen wir uns jetzt auch zehn Jahre danach zu einem Fest, weil es schön ist, sich noch zu sehen und zu sehen, dass es vielen sehr gut geht."

Wilm: Ja, klar. Deswegen treffen wir uns jetzt auch zehn Jahre danach zu einem Fest, weil es schön ist, sich noch zu sehen und zu schauen, dass es vielen sehr gut geht.

Es gibt natürlich auch einige, denen es nicht gut geht. Es gibt auch einige, die sich nicht auf das Angebot der Stadt Hamburg hin gemeldet haben und immer noch Flaschen sammeln oder auch schon längst wieder in anderen Ländern, wie zum Beispiel in Italien sind. Aber es ist ein großes Wiedersehenstreffen und das feiern wir drei Tage. 

DOMRADIO.DE: Ihr Engagement wurde damals auch mit einem Preis ausgezeichnet. Würden Sie es, wie Sie es damals vor zehn Jahren gemacht haben, wieder so machen? 

Wilm: Da kann sich Geschichte nicht wiederholen. Das war situativ. Es war aus dem Moment heraus, da bin ich meinem Gewissen gefolgt. Das Ganze hätte auch total scheitern können, wenn nicht so viele andere Menschen da gewesen wären, die mitgemacht haben.

Es ist alles spendenfinanziert gewesen. Das ist für mich schon ein großes Wunder, dass uns das gelungen ist. 

Das Interview führte Tobias Fricke.

Quelle:
DR