DOMRADIO.DE: "Jetzt ist die Zeit" ist das Motto des Evangelischen Kirchentages 2023 in Nürnberg. Das wirft bei Ihnen Fragen auf, warum?
Michael Schrom (Ressortleiter "Religion und Kirche" bei Publik Forum): Bei der entsprechenden Stelle im Markusevangelium heißt es in voller Länge: "Jetzt ist die Zeit der Umkehr. Das Reich Gottes ist nahe. Bekehrt euch und glaubt an das Evangelium." Davon findet man im Kirchentag-Motto nichts. "Jetzt ist die Zeit" – da stellt sich die Frage: für was? Zunächst ist es eine inhaltliche Leerformel, die sich aber als aktuell erweisen kann. Denn die Frage ist berechtigt: Für was ist jetzt die Zeit? Für Waffen? Für Friedensgespräche? Ist jetzt die Zeit zu handeln oder die Zeit der letzten Generation? Es sind viele offene Fragen, insofern passt das Motto beim zweiten Lesen durchaus. Auch wenn es zunächst scheint, als hätte man es amputiert von den biblischen Wurzeln.
DOMRADIO.DE: Sie sind zurzeit in Nürnberg beim Kirchentag. Haben Sie denn schon eine Antwort auf diese Frage gefunden: Zeit wofür?
Michael Schrom: Bei der Auftakt-Pressekonferenz war auffällig, dass man sich sehr bemüht, diese Zeit positiv zu füllen. Sowohl der Ministerpräsident als auch der Nürnberger Oberbürgermeister haben gesagt, wie sehr man sich freue, analog Zeit miteinander zu verbringen. Wie wichtig es ist, dass bei so einem Kirchentag nicht nur - wie bei einem Parteitag - Fragen verhandelt werden, sondern dass es auch um Spiritualität und Begegnungen geht. Allerdings wird dieser Kirchentag in Nürnberg nicht mehr die Größe vorangegangener Kirchentage haben: Man rechnet nur noch mit etwa 50.000 Dauerteilnehmern, in Dortmund 2019 waren es noch gut 80.000.
DOMRADIO.DE: Beim Katholikentag in Stuttgart im vergangenen Jahr fiel auf, dass die erste Reihe der Politik noch nicht mal mehr anwesend war. Jetzt in Nürnberg gibt es deutlich weniger Teilnehmer. Verlieren diese Katholiken- und Kirchentage grundsätzlich an Relevanz für die Menschen?
Michael Schrom: Ich würde da trennen: Beim Katholikentag in Stuttgart 2022 war es tatsächlich auffällig, dass sehr wenig politische Prominenz da war. Das kann man von Nürnberg nicht sagen. Der Bundeskanzler hat sich angesagt, der Bundespräsident ist da und hochrangige Vertreterinnen und Vertreter von den Grünen. Daran mangelt es nicht. Beide stellen sich aber natürlich prinzipiell die Frage: „Was ist unser Proprium? Für was sind wir gut? Was wollen wir erreichen?“ Kann es darum gehen, die Menschen zurückzugewinnen, wie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder meinte? Oder ist es ein Aufbruchssignal in die Gesellschaft hinein? Da glaube ich, weiß auch der Kirchentag nicht so genau, in welche Richtung es gehen wird.
DOMRADIO.DE: Der Deutsche Evangelische Kirchentag wurde 1949 als Reaktion auf die Zeit des Nationalsozialismus und den fehlenden Widerstand der Amtskirche in dieser Zeit gegründet. Das ist natürlich ein großer Anspruch. Kann dieser Kirchentag dem heute überhaupt noch annähernd gerecht werden?
Michael Schrom: Die Frage der Emanzipation war natürlich ein sehr wichtiger Punkt für die Kirchentags-Bewegung und auch eine sehr starke Identitätsfrage. Die haben sie auch, finde ich, sehr gut gelöst. Der Punkt ist heute, dass die Institutionen mittlerweile so schwach sind, dass man sich fragt: Wo ist denn die Basis und welche Institutionen tragen uns noch? Der Kirchentag ist selbst zu einer Institution geworden und insofern kann er nicht mehr für sich beanspruchen, nicht institutionell zu sein. Wenn man sich anschaut, wieviel Zeit der Vorbereitung es braucht, wieviele Kräfte und Energie der Kirchentag bindet, dann muss man sagen, das ist natürlich auch ein eigener Betrieb.
DOMRADIO.DE: Ist es denn gesellschaftlich überhaupt noch relevant, was die Kirchen in moralischen Fragen, etwa beim Thema Sterbehilfe oder Krieg zu sagen haben?
Michael Schrom: Ich glaube tatsächlich, dass man nicht mehr sagen kann: Der Kirchentag ist die gesellschaftliche Zeitansage für ein moralisches Problem oder eine politische Frage. Dieses Selbstverständnis, das Kirchentage und Katholikentage früher hatten, ist aus der Zeit gefallen, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich glaube, Kirche wird künftig eine Stimme unter vielen sein. Die Frage ist, für was sie steht, welche Argumente sie hat, welche Überzeugungskraft sie hat und ob sie auch begeistern kann. Denn vieles läuft über Emotionen, über die Begegnung und über die Art und Weise, wie man miteinander diskutiert. Und natürlich geht es um die Frage: Was ist eine christliche Position? Darum muss gerungen werden und dafür sind natürlich Kirchen- und Katholikentage sehr gut, weil sie die Christinnen und Christen zusammenbringen mit der Frage: Für was stehen wir? Was wollen wir? Was feiern wir und was glauben wir?
DOMRADIO.DE: Das heißt, es braucht sie trotzdem, die Kirchen- und Katholikentage?
Michael Schrom: Unbedingt. Sie braucht es nach innen als Art der Selbstvergewisserung, der Begegnung, des Festes und nach außen, um zu zeigen: Wir sind hier, wir haben einen Anspruch, wir sind auf der Höhe der Zeit, wir nehmen die Welt wahr als Anfrage, auch für unseren Glauben. Das ist auch Kultur prägend, wenn man schaut, dass es Katholiken- und Kirchentage eigentlich so in keiner anderen europäischen Kirche gibt. Das ist schon eine große Leistung deutschen Christinnen und Christen, die gesellschaftliche Themen aufgegriffen haben. Das sind nicht nur fromme Events oder Parteitage, sondern ein Miteinander von Überzeugungen, Glaubensfragen und Begegnung. Das halte ich für einzigartig und ich würde schon sagen, dass Kirchen- und Katholikentage Kulturgüter sind, die es zu bewahren und zu stärken gilt.
Das Interview führte Ina Rottscheidt.