Danke, Woelki! Das war meine erste Reaktion, als ich die Austrittszahlen las. Mehr als eine halbe Million Menschen hat 2022 der katholischen Kirche in Deutschland den Rücken gekehrt. Die meisten im Erzbistum Köln (51.345). Aber auch im Erzbistum München und Freising, wo ich lebe, sieht es nicht rosig aus. Hier sind 49.029 Katholikinnen und Katholiken aus der Kirche ausgetreten.
Auf der Homepage der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) findet sich die genaue Gesamtzahl. Wenn man findig ist. Denn angeboten wird ein Flyer zum Download, der nicht gleich preisgibt, wie groß das Desaster ist. Erst ganz am Ende steht sie: 522.821. Wenn man dann noch Lust hat weiterzusuchen, stößt man auf eine Publikation, die mehr verrät. "Zahlen und Fakten 2021/2022" heißt sie. Dort, auf Seite 70 (von 88) … Das sieht sehr nach Verstecken aus.
Dazu ein paar Worte des DBK-Vorsitzenden Bätzing: "Es ist nichts schönzureden, und ich bin zutiefst erschüttert über die extrem hohe Zahl von Kirchenaustritten. (…) Die Skandale, die wir innerkirchlich zu beklagen und in erheblichem Maße selbst zu verantworten haben, zeigen sich in der Austrittszahl als Spiegelbild."
Blasser geht’s nimmer. Die Zahl ist nicht überraschend, sie war erwartbar, wenn auch vielleicht nicht in dieser Höhe.
Ändert sich wirklich nichts?
"Nichts schönzureden", "erschüttert", "schmerzlich", "bedauerlich" – alles schon x-fach gehört. Doch geändert hat sich nichts. Dabei gibt es eine Fülle von Gründen, die man offen und ehrlich benennen muss. Die immer noch schleppende Aufklärung der sexualisierten Gewalt. Die immer noch fehlenden notwendigen Reformen, die daraus folgen müssen. Sie betreffen den Zölibat ebenso wie die Weihe der Frauen, die Einbeziehung von Laien genauso wie die unzweideutige Anerkennung queerer Menschen. Und so weiter. Stattdessen folgen Gutachten auf Gutachten, fadenscheinige Argumente, Gerichtsverfahren. Selbst Bätzing gibt unumwunden zu: "Wie lange reden wir schon davon, dass wir an Veränderungen dran sind." Also! Worauf noch warten?
Der von mir sehr geschätzte Kirchenrechtler Thomas Schüller hat recht mit seinem Kommentar: "Die katholische Kirche stirbt einen quälenden Tod vor den Augen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit." Man könnte auch sagen: Die katholische Kirche suizidiert sich. Und zieht ihre Gläubigen mit in den Tod.
Warum springe ich nicht ab, bevor es zu spät ist? Ich lebe doch gern! Weil ich meine Kirche trotzdem mag. Und weil ich viel zu gerne lebe. In ihr und mit ihr.
Warum bleibe ich?
Ich denke nicht daran, die Kirche den Hardlinern aus Köln oder Regensburg oder Passau zu überlassen, damit sie triumphieren. Ich denke nicht daran aufzugeben. Weil die Kirche mehr ist als ihre Skandale und erzkonservative Kirchenpolitik. Viel mehr. Sie ist Begegnung und ist Trost. Sie ist Gemeinschaft und Füreinander-Dasein. Sie ist Heimat und ist Halt. Sie ist Lachen, sie ist Weinen. Und: Sie ist Singen. Miteinander und füreinander. Zum Beispiel im Chor. Natürlich könnte ich auch mitsingen, ohne Kirchenmitglied zu sein. Aber das Dazugehören ist doch noch etwas anderes, wenn man wirklich dazugehört; mit allem, was dazugehört.
Am Abend der Bekanntgabe der Austrittszahlen probten wir die Schöpfung von Joseph Haydn. Wir beendeten die Probe mit dem Schlusschor: "Singt dem Herren alle Stimmen! Dankt ihm alle seine Werke! Lasst zu Ehren seines Namens Lob im Wettgesang erschallen! Des Herren Ruhm, er bleibt in Ewigkeit. Amen."
Es geht nicht um Bischöfe
Singen, danken, ehren, loben. Das ist es, auch und gerade in der Kirche. Es geht nicht um Sturköpfe, die lieber den Untergang der katholischen Kirche in Kauf nehmen, als etwas zu ändern, am Ende gar die eigene Meinung. Es geht nicht um Bischöfe, die sich an ihre vermeintliche Macht klammern. Es geht um Gott. Um seine Schöpfung. Und seine Geschöpfe. Es geht um uns. Zu aller Zeit.
Das Konzert ist in einer Woche. Es ist das erste nach Corona. Wir singen es in unserer Pfarrkirche Christkönig in München. Alle freuen sich darauf. Wir – und die Mitglieder der Pfarrei. Denn wir lassen uns nicht unterkriegen. Nicht wir in Nymphenburg.
Darum: Des Herren Ruhm, er bleibt in Ewigkeit!
Daran kann niemand etwas ändern. Kein rückwärtsgewandter Bischof, keine Kirchenpolitik und auch keine Zahl. So bitter sie ist.
Dr. Beatrice von Weizsäcker
Über die Autorin: Beatrice von Weizsäcker ist Juristin und Publizistin. Zuletzt erschien von ihr "Vaterunser. Gebet meiner Sehnsucht" im Herder-Verlag. Sie trat Anfang 2020 zum katholischen Glauben über.