Das sagte Mertes der "Zeit" (Donnerstag). "Es ist doch schrecklich: Manche laufen weg, weil sie sich schützen müssen. Sie ertragen nicht mehr Laber-Predigten, die Banalisierung des Evangeliums, den Rigorismus." An "Bischofsbashing" wolle er sich aber nicht beteiligen.
Schuldzuweisungen verschärfen Krise
Es sei zu billig, die Vorgänge rund um den Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki oder Papst Franziskus als Gründe auszumachen. Denn die Krise gehe tiefer. Sie verschärfe sich, je mehr Schuldzuweisungen gemacht würden, sagte Mertes. "Es ist eine Milchmädchenrechnung: Wenn der Kölner Kardinal abdankt und Papst Franziskus die deutschen Reformwünsche absegnet, dann tritt keiner mehr aus?! Das glaube ich nicht."
Was nun helfe, sei dableiben, so der Jesuit: "Den Rücken gerade machen. Den Sturm aushalten. Auseinandersetzungen nicht scheuen. In den Weltkrisen und Lebenskrisen die Ängste der Menschen ernst nehmen.
Eigene Ängste überwinden. Andersdenkende vor Hass und Hetze schützen." Mertes ergänzte: "Nicht noch mehr und noch teurere Öffentlichkeitsarbeit - sondern antworten, wenn ich gefragt werde. Nicht das sagen, was alle hören wollen, sondern das, was ich wirklich denke."
Rekord-Austrittszahlen
Ende Juni waren die Kirchenaustrittszahlen für die katholische Kirche veröffentlicht worden. Demnach kehrten mehr als eine halbe Million Menschen der vom Missbrauchsskandal erschütterten Kirche den Rücken. Insgesamt liegt die Mitgliederzahl nun bei rund 20,9 Millionen Katholiken.
Mertes hatte 2018 mit anderen Jesuiten am Zentrum für Ignatianische Pädagogik die Initiative "HumanismusPlus" für eine gesellschaftliche Debatte über Zweck und Ausrichtung der Schulbildung gegründet. Im Januar 2010 hatte er öffentlich gemacht, dass es an seiner damaligen Schule in Berlin sexualisierte Gewalt und Missbrauch gab und die Fälle lange verschleiert wurden. Der Skandal löst eine Welle von Enthüllungen in der Kirche und in anderen Institutionen aus.
Dazu sagte Mertes jetzt im Interview: "Die Missbrauchskrise zeigt wie unterm Brennglas die Lebenslügen der Kirche in ihrem Verhältnis zur Moderne. Wir haben immer noch das falsche Selbstbild: Wenn die Kirche schrumpft, dann haben die Leute ein Defizit. Nicht wir. Das Problem sind die anderen. In Wahrheit sind wir selber das Problem."