Religionssoziologe sieht in Koranverbrennung ein Dilemma

"Wir haben hier einen Wertekonflikt"

Auf das säkulare Schweden richten sich derzeit viele Blicke religiöser Menschen. Erst wurde mit behördlicher Genehmigung ein Koran verbrannt, dann sollte eine Thora in Flammen aufgehen. Welchen Stellenwert haben nun religiöse Bücher?

Symbolbild Koran in Nebelschwaden
 / © Billion Photos (shutterstock)
Symbolbild Koran in Nebelschwaden / © Billion Photos ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Es gibt den Begriff der "Buchreligion". Was besagt der genau?

Prof. Dr. Michael Ebertz, Religionssoziologe und Theologe / © Katholische Hochschule Freiburg (epd)
Prof. Dr. Michael Ebertz, Religionssoziologe und Theologe / © Katholische Hochschule Freiburg ( epd )

Prof. Dr. Michael Ebertz (Emeritierter Professor für Religionssoziologie): Der besagt, dass eine Religion ganz zentral auf einem heiligen Buch ruht. Das gilt sicher für den Islam. Da gilt der Koran als das unmittelbar in Schrift gesetzte Wort Gottes, die Stimme Gottes. Manchmal wird der Islam als Buchreligion mit dem Christentum als Buchreligion verglichen, was sehr problematisch ist.

Denn das Christentum hat zwar ein Buch, aber es ist keine Buchreligion dergestalt, als dass es sich allein darauf bezieht. Vielmehr ist für das Christentum die Orientierung an Jesus Christus entscheidend, die freilich über die Evangelien und über die Briefliteratur, also über interpretierende Texte, vermittelt worden ist. So haben wir im Christentum gelernt, die ja ganz unterschiedlichen und zu verschiedenen Zeiten entstandenen Texte der Heiligen Schrift als Gottes Wort im Menschenwort zu sehen.

DOMRADIO.DE: Das Verbrennen religiöser Bücher ist meistens eine Demonstration von Verachtung, aber damit auch sicherlich eine Form von Meinungsäußerung. Was ist Ihrer Ansicht nach höher zu bewerten? Respekt vor der Religion oder freie Meinungsäußerung?

Prof. Dr. Michael Ebertz

"In Schweden, einem der säkularisiertesten Länder Europas, rangiert in der Bevölkerung die Religionsfreiheit eher unter der Meinungsfreiheit oder sie ist Teil der Meinungsfreiheit."

Ebertz: Das ist schwer zu sagen. Wir haben hier einen Wertekonflikt zwischen zwei Freiheitsdimensionen. In Schweden, einem der säkularisiertesten Länder Europas, rangiert in der Bevölkerung die Religionsfreiheit eher unter der Meinungsfreiheit oder sie ist Teil der Meinungsfreiheit. Religion ist dort – anders als im Irak – privates Meinen. Der Zugang zur institutionalisierten Religion ist in den skandinavischen Gesellschaften über mehrere Generationen hinweg durchaus verblasst. Die Vorstellung, dass religiöse Werte über den Freiheitsrechten der Meinungen stehen, ist in Schweden nicht mehr so ohne Weiteres in der Bevölkerung plausibel.

Von daher kam es zu einer Verschiebung in Richtung Dominanz der Meinungsfreiheit über der Religionsfreiheit. Deshalb haben wir dort solche Auswüchse, zumal die Verbrennung von Büchern nicht ganz diese abwertende Konnotation hat, wie das aus deutscher Wahrnehmung der Fall ist.

Demonstranten stürmen schwedische Botschaft in Bagdad und legen Feuer

Nach Ankündigung einer weiteren geplanten Koranverbrennung in Schweden haben Demonstranten die Botschaft des Landes im Irak vorübergehend gestürmt und dort Feuer gelegt. Laut Augenzeugen zogen Hunderte zur Botschaft, von denen viele über Absperrungen kletterten und Parolen riefen wie "Ja, ja zum Koran". Bilder in sozialen Netzwerken zeigten an dem Gebäude in Bagdad in der Nacht zum Donnerstag Feuer und Rauchwolken.

Bagdad: Demonstranten erklimmen eine Mauer an der schwedischen Botschaft / © Ali Jabar (dpa)
Bagdad: Demonstranten erklimmen eine Mauer an der schwedischen Botschaft / © Ali Jabar ( dpa )

Denn das Verbrennen von Büchern – und Bücher sind sozusagen Repräsentanten von Menschen – beides wurde ja in der NS-Zeit exzessiv betrieben. Wir tendieren dazu, das Verbrennen von Büchern in einen Zusammenhang mit dem Verbrennen von Menschen zu setzen, und haben von daher eine tiefsitzende Aversion gegenüber solche symbolischen Vernichtungspraktiken.

DOMRADIO.DE: Im Islam sind die Reaktionen auf diese Koranverbrennung besonders heftig. Vergangene Nacht ist sogar die schwedische Botschaft in Bagdad erstürmt und angezündet worden. Christen hingegen reagieren deutlich seltener emotional auf Bibelverbrennungen, wenn auch heftig, aber weniger so, wie wir es gerade erleben. Ist das, was wir in Bagdad sehen oder grundsätzlich wie Muslime auf Koran-Verbrennung reagieren, Ihrer Meinung nach eher eine religiöse Frage oder auch eine soziologische Frage?

Ebertz: Die meisten Christen in Europa sind gewissermaßen durch das Feuer der Aufklärung gegangen und haben sozusagen gelernt, mehrere Perspektiven gleichzeitig einzunehmen: die religionskritische Perspektive wie auch die bekenntnisförmige. Das heißt, man denkt, fühlt und kommuniziert als Christ und Christin in den meisten europäischen Kulturen multiperspektivisch.

Von daher kann man auch religiöse Vollzüge kaum mehr naiv ohne die jeweils kritische Stimme im Ohr praktizieren. Da erklingt – als Gewissen – nicht nur der Widerhall der Stimme Gottes, sondern auch die Stimme der Aufklärung. Wer aufgeklärt ist und betet, dem kann dabei sofort die zweite Stimme begegnen: Was machst du denn da eigentlich?

So haben wir es gelernt, mit dieser Spannung in uns selbst zurechtzukommen oder sie jedenfalls auszuhalten. Zumal sich diese Spannung in unserer Kultur mittlerweile durchgesetzt hat, also die Kultur des Pluralismus der Religionen, was ja auch eine Dimension von Religionsfreiheit ist.

Prof. Dr. Michael Ebertz

"Diese Erfahrung des religiösen Neben-, Mit- und Durcheinanders ist in vielen anderen Kulturen überhaupt noch nicht selbstverständlich, gar über Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte eingeübt."

Diese Erfahrung des religiösen Neben-, Mit- und Durcheinanders ist in vielen anderen Kulturen überhaupt noch nicht selbstverständlich, gar über Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte eingeübt. Sie ist auch nicht internalisiert, also Bestandteil des Fühlens und Denkens, sozusagen des Habitus der Einzelperson geworden.

Deshalb reagieren Menschen in solchen anderen Kulturen erheblich empfindlicher auf die fremden Angriffe, auf das, was ihnen selbst heilig ist.

DOMRADIO.DE: Schauen wir mal eine Eskalationsstufe tiefer als die Bücherverbrennung. Kunst und Satire ist in Deutschland etwas, wo auch die Kirche oder unsere Religion immer mal wieder in den Fokus gelangt. Vor einigen Jahren sorgte eine Karikatur in der "Titanic", die einen inkontinenten Papst suggerierte, für eine Welle der Empörung und löste auch bei uns in Deutschland Diskussionen um ein Blasphemieverbot aus. Was meinen Sie, sollten Religionen in Deutschland mehr vor Spott geschützt werden?

Ebertz: Nein, das kann man ja gar nicht mehr in einer Demokratie durchsetzen. Natürlich war jene Karikatur unappetitlich. Aber da gibt es auch eine Spannung zwischen dem, was Karikaturen machen und intendieren. Sie wollen etwas überzeichnen und damit entzaubern. Sie wollen sozusagen ein erlösendes Lachen erzeugen. Sie wollen auf etwas Verborgenes hinweisen.

Auch der Stellvertreter Gottes ist ein Mensch und steht unter den irdischen Gesetzen. Er hat einen Körper, den er in der weißen Soutane zeigt, und er ist Körper, der sich eben auch in Ausscheidungen meldet. Dass das Menschen, die den Papst verehren, auch und gerade Benedikt XVI., empört, entsetzt, kann man gut verstehen. Dass dann Debatten ablaufen, kann man verstehen. Dass dieser Ruf nach Blasphemieverboten wach wird, kann man verstehen. Aber er ist ja nicht durchsetzbar.

Karikatur von Bischöfen zum Umgang mit Missbrauch in der Kirche / © Dieter Mayr (KNA)
Karikatur von Bischöfen zum Umgang mit Missbrauch in der Kirche / © Dieter Mayr ( KNA )

Übrigens, auch das sollte man bedenken. Eine Karikatur, aber auch das, was teils in der darstellenden Kunst passiert, dass man Bilder des Heiligen, des Gekreuzigten zum Beispiel in einer anderen, manche würden sagen, blasphemischen Weise darstellt, ist auch immer wieder ein Impuls für Christinnen und Christen, ihre eigenen Vorstellungen zu reflektieren. Ich denke tatsächlich, dass solche Formen des überzeichnend-provokanten, spielerischen Umgangs seitens der Kunst mit religiösen Symbolen letztlich religiöse Vorstellungen nicht vernichten, sondern sozusagen zum Tanzen bringen.  

Prof. Dr. Michael Ebertz

"Auf der kulturellen Ebene lässt sich wahrnehmen, dass die Kunst die Religion durchaus sehr ernst nimmt, freilich aus ihrer Sicht spielerisch, provokant, provozierend damit umgeht, aber immer noch die Religion ernst nimmt."

Von daher haben sie sogar eine positive Funktion. Man setzt sich damit auseinander, bringt sie in die Kommunikation. Man erkennt: Die Kunst setzt sich damit auch auseinander. Man sieht auf diese Weise, dass die Aussage, wir lebten in einer durch und durch säkularen Gesellschaft, sehr einseitig ist. Man kann zwar sagen: Unsere Gesellschaft ist strukturell – Wirtschaft, Recht, Politik, Medien – säkularisiert. Aber auf der kulturellen Ebene lässt sich wahrnehmen, dass die Kunst die Religion durchaus sehr ernst nimmt, freilich aus ihrer Sicht spielerisch, provokant, provozierend damit umgeht, aber immer noch die Religion ernst nimmt.

Das ist doch eine ermutigende Botschaft gerade für religiöse Menschen. Das kann man auch in der Kunststation Sankt Peter in Köln erleben, wo seit Pater Mennekes diese Spannung zwischen Religion und Kunst systematisch erzeugt worden ist, durchaus sehr inspirierend.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.

Quelle:
DR