In einem Interview der "Rheinischen Post" würdigte Kerstin Claus das von der katholischen Kirche etablierte System der Anerkennungsleistungen als Errungenschaft. "So etwas gibt es bisher weder für die evangelische Kirche noch für andere Institutionen."
Dennoch verbesserungsfähig
Es handle sich um ein umfassendes Regelwerk "mit einem sehr niederschwelligen Nachweis der Taten, der für Betroffene eben oft nicht umfassend möglich ist". Natürlich könne dieses System noch verbessert werden, fügte Claus hinzu. "Und natürlich muss es Konsequenzen geben, wenn jetzt Richter wie am Kölner Landgericht entschieden haben, dass Entschädigungssummen höher ausfallen müssen."
Das Erzbistum Köln soll nach einem am 13. Juni ergangenen Urteil einem Missbrauchsbetroffenen 300.000 Euro Schmerzensgeld zahlen. Weil beide Seiten auf eine Berufung verzichten wollen, könnte das Urteil in Kürze rechtskräftig werden. Das dürfte sich auch auf die Zahlungen der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen UKA auswirken, an die sich Betroffene im Raum der katholischen Kirche wenden können. Das Gremium orientiert sich bei der Höhe der Summen nach eigenen Angaben "am oberen Bereich der durch staatliche Gerichte in vergleichbaren Fällen zugesprochenen Schmerzensgelder".
Keine Einheitlichkeit bei EKD
Im Gegensatz zur katholischen Kirche fehle es in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) an einem übergeordneten System für Anerkennungszahlungen, kritisierte Claus. "Die EKD hat versucht, eine einheitliche Vorgehensweise voranzubringen, aber die Landeskirchen gehen immer noch sehr unterschiedlich vor. Die jeweiligen Musterordnungen unterscheiden sich, und es gibt weiterhin Landeskirchen, die bei den Beiträgen in Höhe von 5.000 Euro geblieben sind."
Noch immer gebe es zudem regional Regelungen, wonach Betroffene, die Anerkennungszahlungen beantragen, nicht nur die Taten plausibel machen, sondern auch das institutionelle Versagen nachweisen müssten. "Das muss dringend geändert werden", forderte Claus.
Nicht unabhängig
Weiter monierte die Missbrauchsbeauftragte, es gebe bis heute in der evangelischen Kirche keine unabhängige Struktur der Anerkennung, die losgelöst von der Institution sei. "Hier kann die evangelische Kirche also einiges von der katholischen Kirche lernen, die nicht zuletzt aufgrund des hohen öffentlichen Drucks und des Engagements von Betroffenen ein so umfassendes System entwickelt hat."
Studie im Herbst erwartet
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat eine Studie zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse für diesen Herbst erwartet werden. Der Professor für Soziale Arbeit an der Hochschule Hannover, Martin Wazlawik, leitet sie. In einem weiteren Forschungsvorhaben untersucht ein Forscherteam der Humboldt-Universität Berlin den Zusammenhang zwischen sexualpädagogischen Vorstellungen und sexualisierter Gewalt seit 1945.
Nach Einschätzung der Missbrauchsbeauftragten Claus kommt das ganze Ausmaß der sexualisierten Gewalt an Kindern und Jugendlichen in der Gesellschaft noch immer zu langsam an: "Noch viel zu oft wollen wir nicht sehen, dass sexuelle Gewalt gerade in unserem direkten Umfeld stattfinden könnte." Die gelernte Journalistin ist Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen und wurde im März 2022 zur Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) berufen.