DOMRADIO.DE: Monsignore Hofmann, Neviges, Bonn, Neuss, Euskirchen, Köln, Wachtberg oder Leverkusen – das sind nur einige der Stationen, wo die Reliquien der Heiligen Bernadette in diesen Tagen auf ihrer Reise durchs Erzbistum Halt machen und der Geist des südfranzösischen Wallfahrtsortes, den jährlich mehr als drei Millionen Menschen besuchen, erlebbar wird. Sie haben im Vorfeld dazu gesagt: Lourdes kommt zu uns. Was genau meinen Sie damit?
Msgr. Dr. Markus Hofmann (Vorsitzender des Deutschen Lourdes-Vereins): Es geht darum, die Botschaft von Lourdes in unsere Pfarrgemeinden, Klöster und Krankenhäuser zu bringen. Viele Menschen sehnen sich nach der geistlichen Atmosphäre dieses Ortes in den französischen Pyrenäen, können Lourdes aber etwa aufgrund ihres Alters nicht mehr besuchen, weil ihnen der Weg inzwischen zu beschwerlich geworden ist. Denn viele verbinden mit einer Wallfahrt nach Lourdes, die sie in der Vergangenheit vielleicht sogar regelmäßig unternommen haben, heilsame Erfahrungen. Nun können sie auf diese Weise daran noch einmal anknüpfen. Das bedeutet für sie Stärkung.
Gleichzeitig wollen wir mit dieser Weiterentwicklung des Pilgergedankens auch denen einen Zugang eröffnen, die noch nie in Lourdes gewesen sind, aber davon gehört haben und vielleicht neugierig sind. Sie alle sollen die Möglichkeit erhalten, mit der Botschaft dieses besonderen Ortes, die nach wir vor hochaktuell ist, in Berührung zu kommen. Deshalb spreche ich auch weniger von einer Reliquienwallfahrt als von Lourdes-Missionen. Das heißt, wir fokussieren uns nicht allein auf die Reliquien – klar, die gehören dazu, ohne Bernadette Soubirous gäbe es diesen Pilgerort mit seinem Heiligtum nicht – aber das Zentrum ist letztlich Gott. Hin zu ihm will sie uns führen.
Von daher denken wir das Thema Wallfahrt noch einmal neu. Natürlich bekommt der Reliquienschrein, der meist im Altarraum aufgestellt wird und in diesen Tagen von den Maltesern mit großer Achtsamkeit von Ort zu Ort transportiert wird, eine große Aufmerksamkeit. Doch neben dem Reliquiar, in dem sich der siebte Rippenbogen der Heiligen Bernadette befindet, reist auch ein Stück Felsgestein aus der Grotte von Massabielle mit, eine Porträtfotografie der Heiligen und eine fast lebensgroße Marienfigur – wie die, vor der die Menschen in Lourdes beten. Die Lichterprozession nach der Pilgermesse mit den typischen Gesängen ist ebenfalls ein authentisches Element. Alles das will uns helfen, sehr konkret mit Lourdes in Kontakt zu kommen.
Im Übrigen gibt es Lourdes-Missionen auch in anderen Ländern. In Westminster Cathedral in London etwa standen die Menschen zuletzt bis auf die Straße, was ein Zeichen dafür ist, dass die Heilige Bernadette auch in Großbritannien verehrt wird. Lourdes ist eben international, und Lourdes-Grotten, wie ich sie Anfang des Jahres noch in Indien an verschiedenen Stellen gesehen habe, gibt es auf der ganzen Welt.
DOMRADIO.DE: Die Reliquienverehrung hat uralte Wurzeln und gehört schon in der frühen Kirche zum christlichen Glauben dazu. Für Außenstehende nimmt sich diese religiöse Praxis allerdings mitunter als kurios aus, manche finden sie regelrecht befremdlich oder halten sie zumindest für antiquiert und aus der Zeit gefallen. Was ist dabei der tiefere theologische Sinn? Welche Bedeutung kann Reliquienverehrung auch heute noch für uns haben?
Hofmann: Reliquien führen uns vor Augen, dass Heilige sehr konkrete Menschen und nicht irgendwie unwirklich oder entrückt sind. Sie sind real und haben hier auf Erden gelebt. Greifbar wird das mit ihren sterblichen Überresten in einem Grab, zu dem Gläubige pilgern. Im Fall von Bernadette befindet sich ihr Leib, der auf wundersame Weise erhalten ist, in Nevers. Reliquien bedeuten also, dass es Heilige gibt und sie kein unerreichbares Ideal sind. Jeder Getaufte ist berufen, heiligmäßig zu leben. Mit anderen Worten: Auch wir können heilig werden.
Das, was von den Heiligen übriggeblieben ist, erinnert mich außerdem daran, dass auch mein Leben einmal zu Ende geht – gerade jetzt, wo wir in der Kirche bald Allerheiligen und Allerseelen feiern. Die Tatsache der Endlichkeit, des eigenen Sterbens, verdrängen wir gerne, aber sie bleibt Realität. Zugleich haben wir als Christen eine Perspektive über den Tod hinaus. Denn als Christ darf ich daran glauben, dass es da noch eine andere Welt gibt und für mich das Leben nach dem Tod weitergehen wird. Persönlich bin ich jedenfalls zutiefst davon überzeugt. Als die Gottesmutter 1858 Bernadette erschienen ist, hat sie gesagt: "Ich verspreche nicht, Sie in dieser Welt glücklich zu machen, sondern in der anderen."
Reliquien verdeutlichen sodann greifbar die Gemeinschaft der Heiligen und wollen dazu anregen, um ihre Fürsprache zu bitten. Heilige sind nicht einfach tot; sie leben bei Gott und sind bereit, uns zu helfen. Reliquien verweisen schließlich auch auf die Auferstehung des Fleisches, die am Ende des Glaubensbekenntnisses steht. Der leibliche Tod, dem jeder von uns entgegengeht, und das Weiterleben der Seele danach sind nicht das Ende unserer Existenz. Jesus hat den Tod überwunden und hat sich mit einem verklärten Leib den Aposteln und den anderen Osterzeugen gezeigt. Nach dem Modell seiner Auferstehung gehen die Heiligen mit all unseren Verstorbenen und auch wir dem Tag entgegen, an dem unsere Seelen mit einem dann verklärten Leib vereint sein werden. Deshalb brennt auf unseren Gräbern auch oft ein Licht, zum Zeichen dafür: Hier "ruht" jemand, dessen Weg noch nicht zu Ende ist. Jesus und seine Mutter Maria haben dieses endgültige Ziel des menschlichen Lebens schon erreicht und erwarten uns im himmlischen Vaterhaus.
DOMRADIO.DE: Wie aktuell ist diese Form der Frömmigkeit, die in Lourdes gelebt wird, in unserer aufgeklärten Welt?
Hofmann: Die Vorstellung, nach Lourdes pilgerten nur alte fromme Frauen, ist schlichtweg falsch. Als Lourdesverein haben wir Jugendlichen, die Anfang August aus dem Rhein-Sieg-Kreis mit ihrem Jugendseelsorger auf dem Weg zum Weltjugendtag nach Lissabon waren, zusätzlich zwei kostenlose Tage in Lourdes angeboten. Die 26 Jugendlichen waren von dieser Erfahrung total angetan. Außerdem bieten wir in jedem Jahr eine eigene Jugendwallfahrt an. Es ist ein Klischee zu denken, Wallfahrtsorte oder Pilgerreisen seien nichts für junge Leute. Wer das glaubt, sollte nach Lourdes fahren und sich vor Ort davon überzeugen, dass dort alle Generationen zusammentreffen. Es gibt ja sogar ein eigenes Jugenddorf, damit sich auch Jugendliche mit einem kleinen Budget eine solche Fahrt leisten können.
Für mich ist Lourdes ein Fenster zum Himmel, zur Welt Gottes. Denn in Lourdes steht die Begegnung mit Maria und Gott im Vordergrund. Wir Menschen leben doch von der persönlichen Begegnung. Dort ist sie möglich. Mit Jesus Christus, mit Maria und mit vielen anderen, ganz normalen Menschen aus unterschiedlichsten Ländern. Nicht umsonst sagen viele Lourdes-Pilger: Da will ich wieder hin. Das geht soweit, dass junge Leute, die den Maltesern bei der Begleitung von Kranken und Menschen mit Behinderung helfen, untereinander konkurrieren, wer im nächsten Jahr mitfährt. Gerade für viele junge Menschen mit einem Handicap – das beobachte ich zum Beispiel bei den Gruppen aus dem angelsächsischen Raum, die in der Woche nach Ostern gemeinsam dorthin kommen – ist Lourdes das Größte.
Mitzuerleben, was dann dort los ist, ist überwältigend und widerspricht dem Vorurteil, Lourdes sei nur etwas für alte Leute. Die Jugendlichen und ihre Begleiter nehmen am üblichen Programm teil mit den Messfeiern, der Lichterprozession, der eucharistischen Anbetung, dem Kreuzweg und haben zugleich ein buntes Programm mit Spielen, Musik und Tanz. Es ist herrlich, wie die Gesichter dann strahlen.
DOMRADIO.DE: Sie sagten schon, wer einmal in Lourdes war, will immer wieder dorthin. Woran liegt das?
Hofmann: Lourdes ist ein Ort für alle: für Gesunde und Kranke, Junge und Alte, weil für viele Menschen die Begegnung mit der Gottesmutter und Jesus Christus hier gut möglich ist und auch leichter fällt als woanders. Es ist kein "magischer" Ort in dem Sinne, dass es dort um vordergründige Gänsehautgefühle oder die Befriedigung von Sensationsgier geht. Lourdes ist ein Ort, der auf Begegnung aus ist. Hier herrscht eine besondere geistliche Atmosphäre. Außerdem tut es gut zu erleben: Ich bin als gläubiger Christ kein Exot, nicht der letzte der Mohikaner. Wenn da viele tausend Gläubige aus allen Ländern weltweit zusammenkommen, miteinander beten und singen, tut das einfach gut und zeigt, dass Lourdes darüber hinaus auch als Modell für das friedliche Miteinander unterschiedlichster Kulturen und Nationen taugt.
DOMRADIO.DE: Jahr für Jahr pilgern Millionen Kranke und Gesunde zum Heiligtum nach Lourdes. Die meisten verknüpfen damit die Hoffnung auf ein Wunder, wie es an der Grotte von Massabielle schon so manches Mal geschehen ist, wenn hier jemand auf wundersame Weise Heilung erfahren hat und diese von der Kirche auch offiziell anerkannt wurde. Was verbinden Sie persönlich mit diesem Wallfahrtsort?
Hofmann: Für mich ist Lourdes ein Ort, an dem ich mich zuhause fühle, wo der Himmel die Erde berührt hat und ich leichter ins Gebet finde als an manch anderem Ort. 1977 war ich als Neunjähriger zum ersten Mal mit meinen Eltern dort. Seitdem habe ich immer wieder erfahren: Hier geht mir das Herz auf. Ich begegne Maria, und die bringt mich zu Jesus Christus. Und so ergeht es auch vielen anderen, die mit ihren Anliegen nach Lourdes pilgern. Ich kenne eine ganze Reihe junger Leute – das gilt auch für mich persönlich – die hier ihre Lebensberufung erkannt haben und zur Entscheidungsreife gelangt sind – auch zu der, eine Ehe einzugehen oder in ein Kloster einzutreten.
Es geht ja nicht immer um ein Wunder, sondern um Wege zu einer inneren Heilung. Die Pilgerinnen und Pilger werden bereit, sich selbst zu hinterfragen und sich – wie Bernadette Soubirous – Maria anzuvertrauen. Sie aber führt nie zu sich, sondern zu ihrem Sohn. Sie führt zu dem, der unsere Wunden getragen und unser Nicht-heil-Sein, das Unheil der Sünde am Kreuz, überwunden hat und alle Menschen an sich ziehen möchte.
DOMRADIO.DE: Und was bedeutet Ihnen die Heilige Bernadette?
Hofmann: Mich fasziniert, dass sie, ein junges Mädchen von 14 Jahren, das weder lesen noch schreiben konnte, schwer krank war, zur ärmsten Familie des Ortes gehörte – die Familie lebte in einem ehemaligen Gefängnis – von Gott für geeignet gehalten wurde, Empfängerin einer Botschaft zu sein, die sich an die ganze Welt richten sollte. Und mich bewegt, wie sie diesem Auftrag – trotz all ihrer Begrenztheiten – treu geblieben ist. Wer sich mit ihrer Biografie beschäftigt, weiß, dass sie eigentlich aufgrund ihrer körperlichen Schwäche – sie starb von Krankheit gezeichnet schließlich 1879 an Lungentuberkulose – für nichts richtig geeignet schien. Sie hat sich 1866 den Barmherzigen Schwestern in Nevers angeschlossen und später vertretungsweise die Leitung deren Krankenstation übernommen. Das aber machte sie mit einer solchen Sorgfalt und Liebe, dass sie sich letztlich als überaus geschätzte Krankenpflegerin erwies und ihre Aufgabe vorbildlich erfüllte. Davon haben später viele Mitschwestern, die für ihre Seligsprechung 1925 Zeugnis geben sollten, berichtet.
DOMRADIO.DE: Als Seelsorger hören Sie viele Geschichten, die sich an Heiligen wie Bernadette Soubirous festmachen. Menschen bitten sie um Fürsprache in der Hoffnung, dass das Unvorstellbare möglich werden möge. Dazu gehören sicher gerade auch die Kriege in Europa und dem Nahen Osten. Sind das auch konkrete Gebetsanliegen, wenn Sie am 29. Oktober das Wallfahrtsjahr im Kölner Dom mit der traditionellen Lourdesfeier einschließlich Lichterprozession beenden?
Hofmann: Erst vor wenigen Tagen hat Papst Franziskus angesichts der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten zu einem Tag des Gebetes und Fastens aufgerufen. Das Gebet ist unsere wichtigste Antwort als Christen, die wir auf die aktuellen Herausforderungen geben können. Einfache Lösungen liegen nicht auf dem Tisch, und wir Menschen können den Frieden, den wir alle so dringend vor allem für die leidenden Menschen in diesen kriegerischen Konflikten herbeisehnen, nicht alleine machen, sondern bedürfen der Hilfe Gottes. In Lourdes beten wir immer für den Frieden, und natürlich werden wir jetzt bei den Lourdes-Missionen in besonderer Weise der Opfer in der Ukraine, im Heiligen Land, aber auch der Erdbeben in Marokko, Afghanistan und der Türkei gedenken.
Die alljährliche Soldatenwallfahrt in Lourdes ist beredtes Zeugnis dafür, dass Frieden zwischen einst verfeindeten Nationen, die vor ein paar Jahrzehnten noch im Krieg miteinander waren, möglich ist. Wenn wir wie Schwestern und Brüder leben wollen, was kann dann die Grundlage dafür sein? Doch nur, dass wir alle einen gemeinsamen Vater, Gott im Himmel, haben. Daran erinnert uns die Gottesmutter in Lourdes. Von daher ist das Friedensanliegen an einem Ort wie Lourdes immer sehr präsent.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.
Information der Redaktion: Die genauen Termine zur Reliquienwallfahrt der Heiligen Bernadette im Erzbistum Köln vom 11.–29. Oktober 2023 finden Sie hier.