Nele Stadtbäumer war 24 Jahre alt und stand kurz vor ihrer Promotion, als ihr Vater plötzlich verstarb. "Mit einem Anruf war mein Leben auf einmal anders", erinnert sie sich. Die Trauer, die Organisation der Beerdigung, die Familie: Sie fühlte sich überfordert und alleingelassen; eine für sich passende Unterstützung fand sie damals nicht.
"Es gab Trauergruppen für Verwitwete, aber da war der Altersdurchschnitt deutlich höher. Für junge Menschen zwischen 20 und 30 Jahren gab es wirklich kaum etwas. Und in einer Gruppe betrug die Wartezeit sieben Monate." Es muss andere Möglichkeiten geben, dachte sie sich und so entstand die Idee für "grievy" (aus dem Englischen: "grieve" – trauern), die erste deutsche Trauer-App. Das Fachwissen brachte sie als studierte Psychologin mit, gemeinsam mit Kolleg*innen und Wirtschaftsinformatikern entwickelte sie die Anwendung als Kölner StartUp.
Eine kleine winkende Hand ist das Erste, was auf dem Bildschirm erscheint: Tippt man sie an, stellt "grievy" Fragen: "Wie lange liegt dein Verlust zurück?", "Um wen trauerst du?" oder: "Beeinträchtigt dich deine Trauer, alltägliche Aufgaben zu bewältigen?"
So könne das Angebot auf das individuelle Bedürfnis der Trauernden zugeschnitten werden, erklärt Nele Stadtbäumer. Danach eröffnet sich ein Bereich, in dem man mit der App interagieren kann, "auch nachts und in den stillen Momenten, wenn man alleine zu Hause ist", fügt sie hinzu.
Seit 2021 arbeitet das mittlerweile sechsköpfige Team an der Umsetzung. Die App basiere auf der kognitiven Verhaltenstherapie, der Akzeptanz- und Commitment-Therapie sowie der Traumatherapie, erklärt die Psychologin.
Algorithmen und echte Menschen
"Es gibt beispielsweise einen 'SOS-Bereich' mit Stabilisierungsübungen, also Audios von fünf bis sieben Minuten Länge, wo man lernt, Halt zu gewinnen", sagt sie. Daneben existiert ein Trauertagebuch, in dem Nutzer*innen regelmäßig Impulsfragen gestellt bekommen und Kursmodule, die sich mit speziellen Themen wie Angst und Schuld beschäftigen.
Es gibt auch Möglichkeiten des Austauschs mit anderen Betroffenen oder geschulten Trauerbegleiterinnen und Psychologen. "Ein solches Format gab es bisher noch nicht", so Stadtbäumer: "Unser Ziel war es, mit "grievy" eine niederschwellige Form der Begleitung zu schaffen, die auch komplett anonym funktioniert, wenn man das möchte."
Über 4000 Trauernde werden bislang durch die App begleitet, in der es einen Gratis-Bereich gibt. Den Zugang zum vollen Angebot gibt es über ein gestaffeltes Abomodell, das bei 14,90 Euro im Monat beginnt. Obwohl man bei der App eher Smartphone-affine, junge User*innen vermuten würde, sind diejenigen, die diese App nutzen, ganz unterschiedlich: "Unsere älteste Kundin ist 83 Jahre alt", verrät Stadtbäumer. Der Altersdurchschnitt liegt bei 55 Jahren – man habe die App extra so konzipiert, dass sie für alle Altersgruppen gut nutzbar sei.
App ersetzt keine Therapie
Die App hat aber auch ihre Grenzen. Eine Psychotherapie kann sie nicht ersetzen. "Nicht jeder Trauernde braucht eine Therapie und umgekehrt", sagt die Psychologin. "Aber wenn es in den pathologischen Bereich geht, sollte man sich wirklich professionelle Hilfe holen."
Aber sie ist überzeugt: "Grievy kann unterstützend wirken in einer schweren Zeit. Es soll ein Ort sein, an dem sich die Trauernden gut aufgehoben fühlen und Antworten auf ihre Fragen finden. Wir können den Schmerz nicht nehmen, aber wir wollen versuchen, die Menschen bestmöglich zu begleiten."