DOMRADIO.DE: Wie beurteilen Sie aus der Sicht einer Betroffenen den Rücktritt von Annette Kurschus?
Katharina Kracht (Ehemaliges Mitglied des Betroffenenbeirates der EKD): Mir fällt es schwer, das zu beurteilen. Ich habe schon so viele symbolische Schritte und Signale gesehen, die von der evangelischen Kirche ausgehen. Wir brauchen keine Symbole und Signale mehr. Wir brauchen vernünftige Strukturen, die die Betroffenen vor Ort unterstützen in ihrer Aufarbeitung.
Es muss endlich aufhören, dass die Betroffenen mit den Landeskirchen alleingelassen werden; wenn es Konflikte gibt, dass sie niemanden haben, der ihre Interessen vertritt gegenüber der Institution. Das sind die Sachen, die mir wichtig sind. Ob Frau Kurschus zurücktritt oder nicht, das ist für mich nicht wichtig.
DOMRADIO.DE: Sie waren bis 2021 im Betroffenenbeirat, den es nicht mehr gibt. Seit 2022 gibt es das Beteiligungsforum. Warum sind Sie da nicht dabei?
Kracht: Das Beteiligungsforum ist sehr gut konzipiert für Betroffene, die sich der Kirche sehr verbunden fühlen. Die können dort mit Kirchenmitarbeitenden zusammen Positionen erarbeiten und 80 oder 90 Prozent der betroffenen Beteiligten dort sind selber in der Kirche beschäftigt oder bei kirchlichen Einrichtungen oder haben familiäre Verbindungen zur Kirche. Wer aber jetzt mehr Distanz zur evangelischen Kirche sucht, und dazu gehöre ich und dazu gehören auch ganz viele andere Betroffene, der fühlt sich nicht vertreten.
DOMRADIO.DE: Es hat sich in der evangelischen Kirche schon viel getan in Sachen Aufarbeitung. Es gibt Präventionskonzepte, es gibt Meldestellen. Wie zufrieden sind Sie denn mit diesen Maßnahmen?
Kracht: Es gibt sicherlich vor Ort in den Kirchengemeinden oder an kirchlichen Schulen viele Menschen, die sich sehr ehrlich engagieren und deren Engagement hoffentlich auch Früchte trägt. Das müssen allerdings unabhängige Stellen bewerten. Da muss es wissenschaftliche Auswertungen geben.
Was ich aber leider nicht sehe, sind Veränderungen auf der Ebene der Landeskirchenämter, wo die sogenannten Fachstellen gegen sexualisierte Gewalt angesiedelt sind. Da höre ich immer wieder von Betroffenen, dass sie dort unempathisch behandelt werden , dass sie sich alleingelassen fühlen. Sie warten sehr lange auf die Beantwortung von Emails, sitzen dann zum Teil mit den Schreiben der sogenannten Fachstelle sprachlos da. Die Mails sind vom Ton her oft wirklich sehr unempathisch.
Und wenn die Betroffenen mit den Ansprechstellen Konflikte haben mit den Fachstellen, dann gibt es keine Schlichtungsstellen, es gibt keine Ombudsstellen. Man muss immer mit kirchlichen Mitarbeitenden diese Probleme lösen oder auch nicht. Und die können natürlich schnell die Hierarchie ausspielen. Die haben eine ganze Fachstelle hinter sich, die machen das hauptberuflich.
Und diese Hierarchie gibt es eben auch im Protestantismus, weil das sind Leute, die sitzen da, deren Arbeitszeit wird bezahlt und die Betroffenen sind oft in Vollzeit berufstätig, viele haben Familie. Daneben engagieren die sich noch für ihre eigene Geschichte, für Aufarbeitung. Das ist nicht so einfach.
Es gibt auch Konflikte in dieser Aufarbeitung: Zum Beispiel wird oft mit den Daten der Betroffenen nicht wirklich vertraulich oder nicht genügend vertraulich umgegangen. Manchmal wird die Glaubwürdigkeit der Betroffenen in Frage gestellt. Und ich finde es ganz wichtig: Die evangelische Kirche muss strukturell was ändern. Es muss Verfahren geben, es muss Standards geben, es muss eine Ombudsstelle geben, die von der Kirche bezahlt wird, aber wo keine kirchlichen Mitarbeitenden sind.
DOMRADIO.DE: Sie haben gerade einen Begriff erwähnt, der immer wieder fällt sowohl bei der Aufarbeitung in der katholischen Kirche wie auch in der evangelischen Kirche, nämlich Glaubwürdigkeit. Wie wichtig ist für Sie dieser Begriff und mit wie viel Leben ist er für Sie gefüllt?
Kracht: Die Kirchen sind Institutionen, die eine Privilegierung haben in unserer Gesellschaft. Die dürfen zum Beispiel in der öffentlichen Schule von öffentlichen Geldern bezahlt ihre Weltanschauung unterrichten, weil wir sagen, das ist eine besonders wichtige Weltanschauung. Das heißt, man spricht denen eine hohe Glaubwürdigkeit zu. Wenn man jetzt aber beobachtet seit vielen Jahren, wie beide Kirchen mit der sexualisierten Gewalt umgehen, finde ich, müsste man mal infrage stellen, inwiefern das gerechtfertigt ist.
DOMRADIO.DE: Im Januar wird eine übergreifende Missbrauchsstudie von der evangelischen Kirche veröffentlicht. Was erwarten Sie sich von dieser Studie?
Kracht: Ich bin sehr froh, dass es diese Studie gibt. Ich bin selber auch im Verbundsbeirat der Forum-Studie und ich kann bislang sagen, dass ich einen guten Eindruck habe. Da wird an vielen Themen gearbeitet, die wichtig sind im evangelischen Kontext. Betroffene sind teilweise beteiligt.
Ich glaube, dass dort viele neue Sachverhalte herauskommen werden und dass es auch Sachverhalte sind, die die EKD und auch die Öffentlichkeit womöglich bislang noch nicht im Blick haben. Und was ich ganz wichtig finde: Die Forum-Studie ist ein Grundstein. Das ist eigentlich die einzige richtige Studie, die es bislang gibt und auf der kann aufgebaut werden. Es werden dort neue Tatkontexte deutlich, es werden sich nach der Forum-Studie noch neue Betroffene melden. Es muss von der evangelischen Kirche noch viel mehr unabhängige Forschung finanziert werden.
DOMRADIO.DE: Es gibt immer wieder Stimmen, die von der Politik eine Wahrheitskommission fordern, weil die Kirchen die Aufarbeitung alleine nicht schaffen. Wie sehen Sie das?
Kracht: Ich denke schon, dass es gut wäre, wenn der Staat mehr in die Verantwortung gehen würde. Es geht klar darum, auf die Kirchen einen Fokus zu legen.
Ich glaube auch, dass es wichtig ist, dass das Recht auf Aufarbeitung für alle Betroffenen verankert wird. Und es ist auch wichtig, dass die Sachen, die es für Betroffene sexualisierter Gewalt schon gibt, also das Opferentschädigungsgesetz zum Beispiel, dass der Zugang dazu vereinfacht wird.
Das Interview führte Heike Sicconi.