"In Freiheit leben. Deutschland sicher in die Zukunft führen" – unter dieser Überschrift steht der über 70-seitige Entwurf zum neuen CDU-Grundsatzprogramm. Das wurde nach fast zweijähriger Arbeit in den Fachkommissionen mit Spannung erwartet. Der Bundesvorstand wird den Entwurf nun weiter beraten und beschließen. Dann wird er im Mai 2024 dem Bundesparteitag vorgelegt.
Viel Arbeit haben die Kommissionen schon investiert. Und nach einigen weiteren Beratungsschleifen ist nun der erste große Wurf auf dem Tisch. Darin findet sich manch Bekanntes. Das ist für ein Grundsatzprogramm nicht überraschend. Denn die CDU erfindet sich nicht neu. Und es finden sich neue Akzente. Die gewählte Mischung aus Tradition und betretenem Neuland macht das Programmprofil aus, das die Partei sich geben will. Aus christlich-sozialethischer Perspektive wage ich eine kritische Würdigung, verbunden mit einigen Korrekturvorschlägen.
Übersicht
Der Entwurf beginnt mit einer kurzen Übersicht zum CDU-Profil. Es folgt ein Abschnitt zur Standortbestimmung Deutschlands unter der Überschrift "Wo wir stehen". Dann werden die Grundlagen der Politik diskutiert unter dem Motto: "Was uns ausmacht": Hier geht es um das christliche Menschenbild, die Grundwerte, die Wurzeln und das Selbstverständnis der Partei. Es folgt ein Ausblick "Wo wir hinwollen". Da geht es um Ziele wie Freiheit, Sicherheit, Zusammenhalt, Wohlstand und Nachhaltigkeit. Am Ende wird noch einmal betont, dass und wie die Zukunft mit Werten gestaltet werden soll.
Würdigung: Wertebasiertes Programm
Das politische Programm wird aus einer transparenten Wertebasis abgeleitet, nicht aus bloßen Postulaten oder Pragmatismus. Hierbei fällt die ebenso realistische wie demütige Erkenntnis auf, dass Politik immer nur vorletzte Antworten geben kann. Diese Bescheidenheit verweist darauf, dass Wahrheit der Politik stets vorausliegt und eine andere Quelle hat. Hier zeigen sich religiöse Wurzeln, die eine solche Quelle bei Gott ausmacht.
In der Wertebasis wird ausdrücklich und zuerst auf das christliche Menschenbild verwiesen, auch auf Wurzeln der Aufklärung. Daraus werden die Werte von Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit und die Gesellschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft abgeleitet.
Besonders im Kapitel über den Wohlstand findet sich eine ausdrückliche Wertebasierung dieses Begriffs. Erfrischend klar wird herausgestellt, dass es sich beim Wohlstand nicht allein um eine quantitativ messbare Größe, sondern um einen qualitativ anspruchsvollen Wert der Lebensqualität handelt. Auch die sozial angestrebten individuellen Tugenden von Optimismus und Realismus, Mut und Demut, Leistung, Pluralismus, Heimat und Zusammengehörigkeitsgefühl folgen der Wertebasis.
Damit werden alle Arten von sozialer Depression, von Utopismus, Versorgungsstaat, Klassen-, Rassen- oder Religionskampf verworfen. Und deshalb gehört für die CDU auch die Scharia nicht zu Deutschland. Und mit einem Bekenntnis zur personalen Entfaltung des Individuums kann gut begründet jede Art des Kollektivismus abgelehnt werden. Der Entwurf ist insgesamt ein gut gelungener Spiegel sozialethisch durchdachter Reflexion.
Ethisch relevante Eckpfeiler
Einige konkrete, ethisch relevante Eckpfeiler seien hier exemplarisch genannt:
- Die CDU hält an ihren drei Wurzeln fest: christlich-sozial, liberal und konservativ.
- Die CDU wünscht sich die Orientierung an einer Leitkultur. Diese wird im Ja zu freiheitlich-sozialem Rechtsstaat, Tradition, Demokratie, Toleranz, Würde, einem ausdrücklichen Bekenntnis zu Israel und geteilten Moralvorstellungen gesehen.
- Nicht pauschal der Islam, wohl aber solche Muslime gehören zu Deutschland, welche unsere grundlegenden Werte teilen. Damit wird eine Abgrenzung zum Islamismus und Antisemitismus unterstrichen.
- Es wird der sinnstiftende Beitrag der Religion gewürdigt. Nicht allein die Bereiche von Caritas oder Diakonie werden genannt, sondern auch ausdrücklich die Seelsorge. Das ist bemerkenswert und sollte von den Kirchen als Ermutigung angesehen werden.
- Am Ziel des Wirtschaftswachstums wird nicht gerüttelt. Deutschland soll Industrieland bleiben.
- Es besteht eine grundsätzlich technologieoffene Haltung gegenüber Künstlicher Intelligenz
- Nachhaltige Klimapolitik soll marktwirtschaftlich organisiert werden.
- Es wird die Inklusion und Teilhabe der Menschen mit Behinderung stark gemacht.
- Im Bildungsbereich wird eine Förderung der sogenannten MINT-Fächer betont.
- Ehe und Familie werden als Orte der Wertevermittlung gestärkt.
- An der biologischen Zweigeschlechtlichkeit wird festgehalten und eine Genderideologie mit entsprechenden Sprachzwängen abgelehnt.
- Außenpolitisch wird das Übel der Christenverfolgung als besonders gravierend benannt.
Korrekturvorschläge
Natürlich ist die CDU als Volkspartei in der Breite der Gesellschaft verwurzelt. So soll es ein. Sie kann also nicht allein auf christlich-sozialethische Stimmen hören, wenn es um den letzten Schliff an ihrem Programmentwurf geht. Doch das "C" im Namen ermutigt mich nun doch, einige Vorschläge anzubieten.
- Es fällt auf, dass, wie in den vorausgegangenen Programmen, das Sozialprinzip der Solidarität wieder als ein Wert vorgestellt ist. Dabei ist nach Oswald von Nell-Breunig sauber zwischen den Werten (als gesellschaftlichen Zielen) und den Sozialprinzipien (als Instrumenten) zu unterscheiden.
- Das christliche Menschenbild als erstes Fundament wird in dem Entwurf inhaltlich so bestimmt, dass der Mensch von Gott geschaffen ist und nicht selbst Schöpfer ist. Das ist sicher richtig, doch aus christlicher Sicht inhaltlich doch zu vage. Der Verweis auf die Gottesebenbildlichkeit macht gerade das Christliche aus. Dies sollte hier auch erwähnt werden. Daneben kann dann natürlich auch die Wurzel der Aufklärung genannt werden und die Offenheit für andere Religionen und Weltanschauungen.
- Es überrascht auch, dass das bürgerliche Profil der CDU ausschließlich aus der Tradition der Aufklärung abgeleitet wird. Dabei lässt es sich ebenso in der christlichen Tradition finden.
- Die große auch sozialethische Herausforderung "China" wird nur an einer Stelle des Entwurfs genannt. Dabei hat die CDU/CSU jüngst ein ausführliches Strategiepapier zu einer neuen China-Politik vorgelegt. Das sollte hier im Blick auf die Wirtschafts- und Geostrategie stärker berücksichtigt werden.
- Die starke Betonung der MINT-Fächer in Schule und Studium sowie der großen Möglichkeiten durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz sind noch recht einseitig. Es braucht vielmehr eine umfassende Bildungsoffensive in ethischen Fächern, um Menschen in den großen Orientierungsfragen wieder zu verantwortlichen Antworten zu befähigen. Und die zumindest im Wohlstandsteil zu KI genannten roten Linien, die die Menschenwürde vorgibt, sollten insgesamt deutlicher werden.
- Der gute Inklusionsgedanke sollte über die Menschen mit Behinderung ausgeweitet werden auf alle Menschen. Inklusion betrifft uns alle.
In einigen Punkten wünschte man sich aus christlich-ethischer Sicht wohl noch klarere Positionierungen, so etwa zum Familienbegriff, zum Lebensschutz oder zur Geschlechterdiskussion. Doch das Feld der Sozialethik ist breiter als diese stets genannten Aspekte. Und es mag die gebliebene Vagheit hier wohl dem Ziel eines Grundsatzprogramms geschuldet sein. Und der Tatsache, dass Politik sich eben nicht an der Wahrheit misst. Denn sie bietet immer nur vorletzte Antworten.
Über den Autor: Elmar Nass ist Sozialethiker und katholischer Priester. Als externer wissenschaftlicher Sachverständiger hat er in der von Jens Spahn geleiteten Fachkommission Wohlstand an der Vorbereitung des Entwurfs zum neuen CDU-Grundsatzprogramm mitgewirkt. Er ist Prorektor der Kölner Hochschule für katholische Theologie und hat dort den Lehrstuhl für christliche Sozialwissenschaften und gesellschaftlichen Dialog inne. Nass ist Vorstand der Stiftung "Christlich-Soziale Politik e.V."