DOMRADIO.DE: Beim Angriff von zwei mutmaßlichen Islamisten auf eine Franziskanerkirche in Istanbul ist am Sonntag ein Mensch ums Leben gekommen. Sie sagen, dieser Anschlag hat Sie nicht überrascht. Warum?
Marion Sendker (Freie Journalistin und Türkei-Expertin): Solche Anschläge hat es schon häufiger vor Wahlen gegeben. In der Türkei stehen in den nächsten Monaten wichtige Kommunalwahlen an. Ich würde nicht sagen, dass es einen Zusammenhang gibt. Das kann man auch offiziell so nicht sagen, denn die geheimdienstliche Arbeit im Land ist allgemein sehr gut.
Wäre das nicht so, könnte noch viel mehr passieren. Seit einigen Jahren kommen immer mehr Menschen ins Land, die sehr radikal sind, gerade aus streng muslimischen Ländern. Die Rede ist da zum Teil von Kämpfern aus Syrien, Afghanistan oder Pakistan. Die werden dann als Migranten gezählt, sind recht viele und die verändern auch gewisse Teile der Türkei sehr. Und in dieser Gemengelage ist es dann nicht überraschend, dass es dann auf einmal zu einem Anschlag kommen kann.
DOMRADIO.DE: Die Türkei unter Präsident Erdogan wendet sich mehr und mehr vom Laizismus ab, der ein grundlegendes Prinzip der Staatsgründung vor über 100 Jahren war. Welche Entwicklung nimmt das Land gerade?
Sendker: Ich selbst erlebe eine extrem polarisierte Gesellschaft. Spannend daran ist, dass nach Zahlen der Opposition sich gerade im Schnitt mittlerweile jeder zweite Erwachsene bewaffnet mit nicht registrierten, illegalen Waffen. Das ist neu in dieser Polarisierungsentwicklung.
Die Türkei war schon immer ein gespaltenes Land. Die Trennungslinie liegt ganz grob zwischen einer religiösen oder säkularen Staats- und Politikausrichtung. Das hat in den vergangenen 20 Jahren zugenommen und in den letzten Monaten noch mehr.
Ich finde es auffällig, wie gerade jetzt dieses Thema so präsent geworden ist. Es gibt fast wöchentlich irgendeinen Vorfall in einer Moschee, zuletzt wurde wieder ein Imam auch angegriffen. Oder es gibt Pro-Palästinenser-Demos, bei denen die islamische Flagge gehisst wird, was dann wiederum zu großen Diskussionen führt, welchen Stand jetzt Religion, also der Islam, überhaupt haben soll in der Gesellschaft.
DOMRADIO.DE: Präsident Erdogan lässt Kirchen bauen, hat jetzt auch der betroffenen Gemeinde in Istanbul seine Unterstützung zugesichert. Andererseits wurde die Hagia Sophia als ehemalige Kirche wieder offiziell zu einem islamischen Gotteshaus ernannt - obwohl sie davor lange eine Museum war. Wie steht Erdogan denn zu den Christen in seinem Land?
Sendker: Das ist spannend. Fast alle Christen, die hier leben, sagen, seitdem Erdogan da ist, geht es uns besser. Er hat eben etwas für Religion getan. Das war vorher anders, eben unter den säkularen Regierungen früher. Dieser Anschlag vom Sonntag aber, der hat im ganzen Land, also auch bei den Säkularen wie auch bei Erdogan, für Entsetzen gesorgt. Vertreter aller Parteien haben das verurteilt, die Regierung hat sehr schnell reagiert. Erdogan hat direkt angerufen, sein Innenminister ist direkt hingefahren.
Und auch wenn eben diese Regierung einen islamischen Schwerpunkt hat und den politischen Islam salonfähig gemacht und extrem verbreitet hat: Der Schutz von anerkannten religiösen Minderheiten hat immer noch Priorität in der Türkei. Ich denke, das ist zu erklären mit der türkischen Version des deutschen "Nie wieder". Es gab in der Nacht auf den 7. September 1955 in Istanbul einen Pogrom gegen nichtmuslimische Mitmenschen. Die Stimmung war damals ähnlich wie heute sehr angespannt in der Bevölkerung und ist dem Staat eben entglitten. Und diese Nacht ist für alle in der Türkei ein Schandfleck in ihrer Geschichte. Seitdem gilt: Nie wieder dürfen wir die Kontrolle so sehr verlieren. Nie wieder dürfen Menschen anderen Glaubens so sehr angegriffen werden.
DOMRADIO.DE: Der zuständige katholische Geistliche in Istanbul, der Apostolische Vikar Massimiliano Palinuro hat in einem Interview von zunehmenden Feindseligkeiten gegenüber Christen in der Türkei gesprochen. Gerade auch seit Beginn des Gazakrieges. Können Sie das bestätigen?
Sendker: Ich kann das weniger bestätigen, persönlich und auch von meiner Gemeinde aus, in der ich Mitglied bin, da ist das alles kein Thema gewesen. Gott sei Dank - und im Gegenteil sogar. Privat, persönlich und auch beruflich als Journalistin muss ich mit allen in der Türkei sprechen, auch mit Islamisten, auch mit Hamas-Unterstützern zuletzt sehr viel. Ich weiß, die sehen mich als Ungläubige an, aber gleichzeitig haben sie Respekt vor mir, weil ich eben Katholikin bin, weil ich wie sie an einen Gott glaube.
Ich denke, das größere Problem ist, dass es der Regierung nur vordergründig um Religion geht. Islam ist ein politisches Tool, deswegen spricht man auch vom politischen Islam. Und Christen können da in der Türkei eben manchmal in eine Art politische Geiselhaft geraten, sie werden zum Faustpfand der großen Politik.
Es gibt hochrangige christliche Geistliche, die mir sagen: Wir haben entschieden zu schweigen. Und das erklärt dann auch zum Beispiel Fotos, die sie gemeinsam mit dem Staatspräsidenten zeigen. Und dann gibt es aber auch andere, die sagen: Ich schweige nicht. Und das sind aber auch diejenigen, die, wenn sie Ausländer sind, was häufig der Fall ist, dann Probleme bekommen. Zum Beispiel bei der Förderung ihrer Aufenthaltsgenehmigung.
DOMRADIO.DE: Dieser Anschlag wurde im Nachhinein vom Islamischen Staat reklamiert, das ist nichts Neues. Auch in Istanbul gab es schon IS-Anschläge. Bräuchte es da mehr Schutz für christliche Kirchen von Seiten der Regierung?
Sendker: Ich glaube nicht, dass zum Beispiel Polizeipräsenz vor den Kirchen eine wirkliche Hilfe wäre. Das würde vielleicht sogar eher noch das Gefühl von Unsicherheit stärken und auch die Gesellschaft noch mehr teilen. Wenn eine Bedrohungslage bekannt gemacht wird, dann gibt es ja auch eben diesen Schutz für diese bestimmten Tage.
Ich glaube, was es eher bräuchte, was den Christen auch wirklich helfen würde, wäre eine Entpolitisierung der Religion, sowohl in der islamisch-konservativen aktuellen Regierung als auch genauso in der säkularen Opposition, die das Leben religiöser Minderheiten, zumindest früher als sie an der Macht waren, auch nicht einfacher gemacht haben.
Das Interview führte Tobias Fricke.