Erstmals regiert eine Katholikin in Nordirland

O'Neill strebt Vereinigung mit Irland an

Michelle O'Neill ist neue "First Minister" in Nordirland. Damit hat der Landesteil nach einer zweijährigen politischen Krise wieder eine Regierung. Zum ersten Mal steht eine Katholikin und irische Patriotin an der Spitze.

Autor/in:
Sarah Stutte und Christoph Schmidt
Michelle O'Neill, neue "First Minister" in Nordirland, während eines Treffens mit Journalisten in Belfast / © Niall Carson (dpa)
Michelle O'Neill, neue "First Minister" in Nordirland, während eines Treffens mit Journalisten in Belfast / © Niall Carson ( dpa )

Als Kind erlebte Michelle O'Neill den Nordirlandkonflikt hautnah mit. Besonders die Jahre zwischen 1969 und 1998, als sich Protestanten und Katholiken einen blutigen Kampf um die Identität ihrer Heimat lieferten, haben sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben.

Während die protestantischen Unionisten Teil des Vereinigten Königreichs bleiben wollten, versuchten sich die Katholiken von der "britischen Besatzung" zu befreien und forderten die Vereinigung mit der Republik Irland. 

Vater mit IRA-Bezug

Damals kämpfte an vorderster Front die Irisch-Republikanische Armee (IRA) mit zahlreichen Bombenanschlägen, Entführungen und Raubüberfällen für ein unabhängiges Irland. Wobei auch klar war, dass die religiöse Konfession zwar als identitätsstiftender Faktor noch einiges Gewicht hatte, aber Fragen des "rechten Glaubens" im politisch-militärischen Kampf des ausgehenden 20. Jahrhunderts im Grunde keine Rolle mehr spielten.

Parlament und Regierungsgebäude von Nordirland in Belfast / © Nahlik (shutterstock)
Parlament und Regierungsgebäude von Nordirland in Belfast / © Nahlik ( shutterstock )

Michelle O'Neills Vater war Aktivist der weithin als Terrororganisation eingestuften IRA und saß dafür im Gefängnis. Später suchte er den friedlichen, politischen Weg der irischen Wiedervereinigung. Diese Erfahrungen haben die Politikerin geprägt, die 1977 im Süden Irlands geboren wurde, aber in Nordirland zur Schule ging. Eine kaufmännische Lehre brach sie mit Anfang 20 ab, um sich ganz der Politik zu widmen – das Ende des gewaltsamen Konflikts durch das sogenannte Karfreitagsabkommen hatte 1998 die Rahmenbedingungen dafür grundlegend verändert. 

Ziel: geeintes Irland

O'Neills politische Heimat wurde die katholisch geprägte Partei Sinn Fein, die sich bis heute für ein geeintes Irland einsetzt. Dem Traum ihres Vaters folgte sie damit weiter. 2005 übernahm sie dessen Sitz im Bezirksrat von Dungannon und South Tyrone und wurde danach immer wieder in die Nordirland-Versammlung, das Regionalparlament, gewählt. Regierungserfahrung sammelte sie als Landwirtschaftsministerin, ab 2016 als Ressortleiterin für Gesundheit und von 2020 bis 2022 schließlich als stellvertretende Erste Ministerin. Zudem übernahm die energische Politikerin den Vorsitz der Sinn Fein.

Kirche in Irland vor dunklem Himmel / © Algirdas Gelazius (shutterstock)
Kirche in Irland vor dunklem Himmel / © Algirdas Gelazius ( shutterstock )

Am Samstag wurde Michelle O'Neill vom Regionalparlament in Belfast zur Ersten Ministerin und damit Regierungschefin Nordirlands gewählt. Das ist aus mehreren Gründen ein historischer Moment. Denn damit ist Michelle O'Neill nicht nur die erste Vertreterin der 2022 erstmals siegreich aus Parlamentswahlen hervorgegangenen Sinn Fein an der Regierungsspitze, sondern auch die erste Katholikin in diesem Amt. 

"Erste Ministerin für alle"

Bisher hatten immer Parteivertreterinnen und -vertreter des protestantischen Lagers die Regierung angeführt. Diese hatten sich in den vergangenen zwei Jahren gegen eine irische Patriotin als Erste Ministerin gewehrt. Ihrem Traum von der Vereinigung mit der Republik im Süden könnte O'Neill nun ein Stück näher gekommen sein. Ihre Entscheidungen kann sie jedoch nur mit ihrer Stellvertreterin Emma Little-Pengelly von der protestantisch geprägten Demokratisch-Unionistischen Partei (DUP) treffen.

Die 47-Jährige zweifache Mutter O'Neill, die sich 2014 von ihrem Mann trennte, sagt über ihr neues Amt, dass sie eine "Erste Ministerin für alle" sein werde. Sie sei sich im Klaren darüber, dass die Verbitterung zwischen Protestanten und Katholiken über den damaligen Bürgerkrieg nach wie vor groß sei und sie die Vergangenheit nicht ändern könne. Doch, so zitierte sie die "NZZ am Sonntag": "Wir müssen alle nach vorn schauen."

Herausforderungen auf den britischen Inseln

Die große Aufgabe, die O'Neill nun zu leisten hat: Sie muss in Nordirland beide Lager von einer Einigung überzeugen und gleichzeitig die politische Auseinandersetzung mit der DUP und der Londoner Regierung bestehen, die der Brexit und Handelsfragen zwischen Nordirland und Irland zusätzlich verkomplizieren. Zwar leben in Nordirland laut der letzten Zählung erstmals mehr Katholiken als Protestanten, aber eine Mehrheit für die Vereinigung mit Irland liegt Umfragen zufolge in weiter Ferne. Demgegenüber sind in Irland offenbar die meisten dafür, inklusive die maßgeblichen Regierungskreise in Dublin. 

Unabhängig davon verfolgt O'Neill ein sozialpolitisch geprägtes Programm. So will sie etwa in den nordirischen Wohnungsbau und in den Ausbau des Gesundheits- und Bildungssystems investieren.

Wie ging der Nordirland-Konflikt weiter?

1975: Geheimverhandlungen zwischen IRA-Führung und britischer Regierung führen zu einem Waffenstillstand von Januar 1975 bis Januar 1976. Dieser wird durch eine Mordserie protestantischer Ultras gegen katholische Zivilisten hintertrieben. Die IRA antwortet mit Vergeltungsmaßnahmen.

Nordirland-Konflikt: Zwei Männer vor einem Fenster mit der Aufschrift "British Army out" (dt. Raus mit der Britischen Armee)  / © Ernst Herb (KNA)
Nordirland-Konflikt: Zwei Männer vor einem Fenster mit der Aufschrift "British Army out" (dt. Raus mit der Britischen Armee) / © Ernst Herb ( KNA )
Quelle:
KNA