DOMRADIO.DE: Wie haben Sie die Lage der Menschen vor Ort erlebt?
Regina Kaltenbach (Projektreferentin für Caritas International): Mir fällt es immer noch schwer, das in Worte zu fassen.
Ich habe eine unglaubliche Perspektivlosigkeit und Hoffnungslosigkeit erlebt. Die humanitäre Lage ist so schlimm wie noch nie. Es ist noch schlimmer als während des "Höhepunktes" des Kriegs.
Wir erleben bei unseren Partnerorganisationen, dass Menschen jeden Tag Syrien verlassen, weil es einfach keine Zukunftschancen gibt. Insbesondere die jungen Leute, die in weiten Teilen auch sehr gut ausgebildet sind und mehrere Sprachen sprechen, versuchen sich in Europa, in Kanada, in Australien eine Zukunft aufzubauen.
DOMRADIO.DE: Wie sieht denn der Alltag aus? Gibt es Schulen und medizinische Versorgung?
Kaltenbach: Insbesondere die kritische Infrastruktur, das Bildungssystem und die medizinische Versorgung sind dadurch enorm eingeschränkt, dass Gebäude durch den Krieg massiv zerstört wurden. Das hat natürlich Einfluss auf die Versorgung. Wenn wir weniger Schulen zur Verfügung haben, hat das zur Konsequenz, dass die wenigen Schulen, die noch funktionieren, überfüllt sind. Wir haben die Situation, dass es keine Seltenheit ist, dass in einem Klassenzimmer 50 Kinder sitzen.
DOMRADIO.DE: Im vergangenen Jahr hat ein Erdbeben den Nordwesten Syriens getroffen. Was weiß man denn über die Lage der Menschen vor Ort? Kommt man überhaupt in die Region?
Kaltenbach: Ja. Wir haben über zwei Partnerorganisationen Zugang in den Nordwesten. Die Lage im Nordwesten ist noch mal schlimmer und noch mal schwieriger, weil dieser Teil des Landes von verschiedenen Rebellengruppen beziehungsweise der Opposition kontrolliert wird – je nachdem, wen man fragt. Dort hält sich die größte Anzahl an intern Vertriebenen auf.
Das sind Menschen, die in den letzten 13 Jahren mehrfach vertrieben wurden, zuletzt wegen des Erdbebens. Aber das ist auch der Teil des Landes, wo es noch tagtäglich zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt. Auf den Teil des Landes fallen immer noch Bomben. Da sind die Bedingungen noch mal katastrophaler. Da leben die Menschen immer noch in Zeltsiedlungen. Die haben auch schon vor dem Erdbeben in Zeltsiedlungen gelebt.
DOMRADIO.DE: Wie genau helfen Sie denn mit Caritas International?
Kaltenbach: Wir haben verschiedene Projekte, bei denen es um die Grundversorgung geht. Wir versorgen Menschen mit Nahrungsmitteln, wir haben Bildungsprojekte und wir fokussieren uns in Syrien insbesondere auf die Unterstützung von Menschen mit Behinderung. Denn das ist eine Gruppe, die vom Regime überhaupt nicht beachtet und überhaupt nicht unterstützt wird und unter den schwierigen Bedingungen ungemein notleidend ist.
Ein weiterer Fokus liegt auf der Stabilisierung der psychischen Gesundheit. Man kann sich denken, dass die mentale Gesundheit nach 13 Jahren Krieg, nach 13 Jahren Entbehrung und nach 13 Jahren Verlust von Familienmitgliedern enorm unter Druck steht. Da versuchen unsere Partner die Menschen mit verschiedensten spezialisierten Angeboten zu stabilisieren, damit sie irgendwie weitermachen können.
DOMRADIO.DE: 90 Prozent der Syrer leben unter der Armutsgrenze. Ein Ende des Bürgerkriegs scheint auch nicht in Sicht. Gibt es irgendein vorstellbares Szenarium, das aus dieser Katastrophe wieder hinausführen könnte?
Kaltenbach: Wir brauchen eine politische Lösung für diesen Krieg. Aber es gibt keine Anzeichen für Hoffnung, dass es zu einer Lösung kommt. Die Lage ist sehr festgefahren. Es gibt natürlich Verhandlungsprozesse. Da wird auch auf diplomatischer Ebene weiterhin dran gearbeitet. Aber Zeichen für eine zeitnahe Veränderung der Situation sind nicht sichtbar.
DOMRADIO.DE: Gibt es noch einen Funken Hoffnung in den Menschen in Syrien?
Kaltenbach: Ich klammere mich immer an meine Kolleginnen und Kollegen vor Ort. Das sind unglaublich engagierte Menschen, die tagtäglich dort helfen und sich bemühen, die Lebensrealität irgendwie ertragbar zu machen. Das gibt mir Hoffnung.
Aber die Lage an sich ist katastrophal. Ich kann gut verstehen, wenn Menschen Syrien verlassen. Ich würde ebenso handeln, wenn ich in der Situation wäre.
Das Interview führte Heike Sicconi.