DOMRADIO.DE: Sie haben gemeinsam mit Papst Franziskus seine Autobiografie geschrieben. Wie kam es zu dieser besonderen Zusammenarbeit?
Fabio Marchese Ragona (Co-Autor der Papstbiografie "Leben. Meine Geschichte in der Geschichte"): Ich kannte den Papst schon von vorherigen Interviews. Und dann habe ich ihm vorgeschlagen, gemeinsam dieses Buch zu schreiben. Ich hatte mich schon oft aus journalistischer Neugier heraus gefragt: Was hat der Papst eigentlich zur Zeit der ersten Mondlandung gemacht oder als die Berliner Mauer fiel oder während der Anschläge aufs World Trade Center? Was hat er wohl in diesen historischen Momenten getan, wo war er, was hat er gedacht?
Außerdem habe ich darüber nachgedacht, wie viel alte Leute doch zu erzählen haben, von den schönsten und schlimmsten Momenten, vom Frieden und vom Krieg. Als ich mit dem Papst darüber sprach, sagte er: "Ich bin ein alter Mann, ich kann gerne Zeugnis ablegen von dem, was ich gesehen und erlebt habe." So ist die Idee entstanden, sein Leben in einem Buch zu erzählen. Die Idee war auch, sein Leben zu erzählen, wie es wirklich war. Denn gerade mit Blick auf das Leben von Franziskus sind auch viele Unwahrheiten im Umlauf.
DOMRADIO.DE: Wie genau können wir uns die Zusammenarbeit mit dem Papst vorstellen? Wie und wo haben Sie sich getroffen?
Marchese Ragona: Wir haben uns einige Male getroffen. Vier Mal habe ich ihn zu Hause im vatikanischen Gästehaus Santa Marta besucht - für längere Sitzungen von jeweils über drei Stunden. Außerdem haben wir sehr oft telefoniert und viele E-Mails ausgetauscht. Ich habe dann begonnen, alles aufzuschreiben und er hat Kapitel für Kapitel Korrektur gelesen, manches geändert, anderes hinzugefügt. Ein paar Mal rief er an und bat mich, noch etwas umzuformulieren. Wir haben uns viel Zeit für den Bearbeitungsprozess genommen und ihn erst im Februar abgeschlossen.
DOMRADIO.DE: Haben Sie denn mit Franziskus für das Buch Interviews geführt?
Marchese Ragona: Wir haben ausführliche Gespräche gehabt, uns oft auch locker unterhalten. Dabei haben wir uns jeweils auf ein Thema oder einen bestimmten Moment der Geschichte konzentriert und besprochen, was Franziskus wie, wann und wo gemacht und was er dabei gedacht hat. Das Buch ist also eher aus Unterhaltungen heraus entstanden.
DOMRADIO.DE: Sie sagen, dass sich Franziskus in der Korrekturphase immer wieder Nachbesserungen gewünscht hat. Haben Sie ein Beispiel?
Marchese Ragona: Franziskus ist unglaublich präzise. So hat er zum Beispiel auch ein besonderes Augenmerk auf die Zeichensetzung gelegt, wirklich über jedes einzelne Komma nachgedacht. Außerdem hat er Tippfehler aufgespürt. Ich fand faszinierend, wie er als Argentinier italienische Grammatik korrigieren konnte. Außerdem fällt mir jetzt noch ein Detail im Zusammenhang mit seiner Zeit in Deutschland ein, also der Zeit, als er in Boppard am Goethe-Institut Deutsch lernte.
Während unserer Gespräche hatte ich verstanden, dass er damals auch die Augsburger Kirche Sankt Peter am Perlach besucht und dort das berühmte Wallfahrtsbild der Maria Knotenlöserin gesehen hat und sehr davon beeindruckt war. Also schrieb ich das genauso. Da rief Franziskus mich an sagte: "Das müssen wir ändern; ich war nie in dieser Kirche." Tatsächlich kannte er die Augsburger Madonna Knotenlöserin von Abbildungen, die er in Buenos Aires gesehen hatte. Da haben wir also nachgebessert.
DOMRADIO.DE: Sie haben für die Autobiografie also sehr intensiv mit Franziskus zusammengearbeitet. Wie haben Sie diesen direkten Umgang mit ihm erlebt?
Marchese Ragona: Es war eine wunderbare Erfahrung. Es war ein ganz außergewöhnliches Erlebnis, wie es mir vielleicht in diesem Leben nicht mehr widerfahren wird. Ganz besonders hat mich seine Bescheidenheit bewegt, seine Demut und Menschlichkeit. Sein Interesse am Menschen hat keine Grenzen.
Wenn ich zu ihm kam, zum Beispiel am frühen Nachmittag, hat er immer als erstes gefragt, ob ich schon gegessen hätte. Manchmal hat er mir Schokolade angeboten, mich gefragt, ob ich Fruchtsaft oder Wasser trinken möchte. Er hat wirklich dafür gesorgt, dass ich mich rundum wohlfühlen konnte.
DOMRADIO.DE: Die Lebensgeschichte des Jorge Mario Bergoglio war schon vorher in weiten Teilen bekannt. Das Buch reicht jetzt von der Zeit der Militärdiktatur in Argentinien bis hin zum Verhältnis zum emeritierten Vorgänger oder auch der Frage eines möglichen Rücktritts. Was hat Sie am meisten beeindruckt von alledem, das Ihnen Franziskus erzählt hat?
Marchese Ragona: Ganz besonders beeindruckt hat mich, wie er vom Jahr 1945 erzählt, das er als Kind in Buenos Aires erlebt hat. Franziskus sagt, dass er sich daran erinnert, als wäre es gestern gewesen. Daran nämlich, wie die Nachbarin damals den Namen seiner Mutter rief: "Frau Regina, Frau Regina, der Krieg ist vorbei!" Beide Frauen, so erzählt er weiter, weinten hemmungslos. Obwohl sie in Argentinien wirklich weit weg waren vom eigentlichen Kriegsgeschehen, hatten sie ein enormes Bedürfnis nach Frieden.
Das hat den kleinen Jorge damals so bewegt, dass er es nie wieder vergessen hat. Außerdem erzählt Franziskus davon, wie die Angehörigen seiner Familie über Hitler sprachen, ihn ein Monster nannten. Sie hatten von Verwandten in Italien von den Rassegesetzen gehört, von den Deportationen, von Menschen, die verschwanden und in Konzentrationslager verschleppt wurden. Wie also in seiner Familie von Hitler als Monster gesprochen wurde, hat sich dem Kind Jorge ins Gedächtnis gebrannt, auch wenn er heute gar nicht beschreiben kann, was er damals fühlte.
DOMRADIO.DE: Was wünschen Sie sich für das Buch?
Marchese Ragona: Ich hoffe natürlich, dass möglichst viele Menschen es lesen werden. Ich hoffe, dass es ihnen wie mir ergehen wird. Ich habe festgestellt, dass ich vor dieser Zusammenarbeit viele Worte und Gesten des Papstes gar nicht richtig einordnen, sie nicht richtig verstehen konnte. Denn um ihn heute richtig verstehen zu können, müssen wir wissen, wer er war, bevor er Papst wurde. Woher kommt seine Aufmerksamkeit für die Migranten? Auch daher, dass sein Vater selbst Migrant war, dass seine Großeltern aus Italien nach Argentinien eingewandert waren.
Oder wenn wir an das Thema Armut denken. Warum legt der Papst ein solches Augenmerk auf die Armut? Auch deshalb, weil er in einem Umfeld aufgewachsen ist, das ganz sicher nicht von Reichtum geprägt war. Auch deshalb, weil er als Priester und als Bischof engen Kontakt mit Armen pflegte. Sie standen im Zentrum dessen, was er als seinen kirchlichen Dienst verstand. Wer also den Papst von heute verstehen will, muss verstehen, wer er vorher war.
DOMRADIO.DE: Das Buch ist am 19. März erschienen. Wie hat Franziskus reagiert?
Marchese Ragona: Kurz vorher, am 15. März, sind wir mit den Verantwortlichen des Verlags bei ihm gewesen, um ihm jeweils ein Exemplar in jeder Sprache zu überreichen – also je eins auf Italienisch, Spanisch, Französisch, Deutsch, Englisch, Portugiesisch und Polnisch. Da war er sehr zufrieden und hat gesagt, dass wir unbedingt weitermachen sollen. Und er hat zugegeben, dass er am Anfang gar nicht so überzeugt von meiner Idee gewesen war.
DOMRADIO.DE: Sehen Sie in der Autobiografie auch schon eine Art Testament?
Marchese Ragona: Das will ich nicht hoffen. Bei unseren Treffen habe ich Franziskus überaus enthusiastisch und interessiert erlebt. Er hat noch so viel vor. Er will noch viele Reisen machen, er will beim nächsten Weltjugendtag dabei sein. Dann stehen ja auch noch das Heilige Jahr und die Weltsynode an. Er hat also noch jede Menge Projekte. Ich sehe, dass er noch so viel zu tun und zu sagen hat, und ich wünsche ihm, dass Gott ihm noch viel Zeit dafür schenkt.
Das Interview führte Hilde Regeniter.