DOMRADIO.DE: Wie ist es überhaupt zu dieser Reise gekommen und warum gerade die Niederlande?
Prof. Dr. Jan Loffeld (Lehrstuhl für Praktische Theologie der Universität Tilburg und Berater der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz): Es gab einige Reisepläne der Pastoralkommission nach England. Das ist dann wegen Corona ausgefallen. Dann fragte mich der damalige Vorsitzende der Kommission, Bischof Bode, ob man stattdessen in die Niederlande kommen könnte. Daraufhin habe ich gesagt: Ja, aber nur, wenn die Voraussetzung klar ist, dass wir keine Konzepte kopieren wollen und dass man hier einfach keine Hochglanzpastoral bekommt. Und dass man nicht vorgeht wie bei einer Schnittblumenpastoral, wie Christian Hennecke das nennt, dass man die eine Blume da abschneidet und sie woanders wieder einpflanzt, wie man das mit den Philippinen oder anderen pastoralen Initiativen aus dem Ausland versucht hat.
Es soll bei so einer Reise darum gehen zu gucken, wie sich eine Ortskirche innerhalb der westeuropäischen Säkularität verortet, aber auch ökumenisch verortet, wie sich dadurch andere christlichen Initiativen verorten und daraus die eigenen Schlüsse für die eigene Ortskirche zu ziehen. Das war sehr wichtig in der Prämisse. Und weil die Pastoralkommission damit sehr gut leben konnte und nicht neue Konzepte haben wollte, die dann bei uns zu Hause sowieso nicht funktionieren, sind wir dann die Planung angegangen.
DOMRADIO.DE: "Die Niederlande geben uns vielleicht eine Ahnung, was auch auf die Kirche in Deutschland zukommen wird", sagte Bischof Peter Kohlgraf, der neue Vorsitzende der Kommission. Was sehen Sie denn auf die Kirche in Deutschland zukommen?
Loffeld: In der Kulturwissenschaft spricht man vom sogenannten "Pilot Country". Man sagt, dass die Niederlande in Europa eines der vorausstrebendsten Länder sind, was kulturelle Entwicklungen und Antizipation von solchen Entwicklungen betrifft. Darauf sind viele Niederländer eben noch stolz, dass das so ist. Wir sehen das auch zum Beispiel im Bereich von Euthanasie. Die Diskussion war hier vor 20 Jahren. Die Abtreibungsfrage ist ja völlig liberalisiert, aber auch die Frage nach Cannabis zum Beispiel. Das sind alles Dinge, die es hier schon lange gibt.
Das kann eben auch für kirchliche oder theologische Zusammenhänge gelten. Zum Beispiel sieht man das in der Pastoral. Man hat hier nicht vermocht, die Generation der Babyboomer christlich zu sozialisieren. Die gibt es hier nicht mehr in den Pfarreien. Die Ehrenamtlichen in den Pfarreien sind alle 20 Jahre älter. Das heißt, es ist schon einiges sichtbar, wie es sein kann, wenn zum Beispiel ganz, ganz wenige Ehrenamtliche zur Verfügung stehen oder sich engagieren wollen. Das kann man kulturwissenschaftlich schon sagen.
Was bei unserer Reise eine große Rolle spielte, war natürlich auch dieses Pastoralkonzil, was hier schon vor 50 Jahren stattgefunden hatte und wo man fast detailgenau Parallelen zu dem, was heute in Deutschland stattfindet, feststellen kann. Ich gebe mal ein Beispiel: Es gab nach dem Pastoralkonzil auch das Ansinnen einen Pastoralrat zu gründen. Und damals hatten die Römer die gleichen Bedenken wie heute den Deutschen gegenüber, nämlich dass die bischöfliche Autorität nicht mehr dieselbe ist oder verloren geht.
Es gibt da wirklich eins zu eins Parallelen. Darüber haben wir auf der Reise auch gesprochen und die Diskussion dazu war sehr interessant.
DOMRADIO.DE: Aber Sie warnen selbst auch davor, Ideen und Modelle aus anderen Ländern zu importieren, weil die kulturellen Unterschiede doch auch manchmal sehr groß sind. Wie ist das denn jetzt mit den Niederlanden? Sind die so anders als wir, obwohl es direkt das Land nebenan ist?
Loffeld: Ganz genau. Man muss vorsichtig sein, einerseits diachron, also Sachen aus der Geschichte zu parallelisieren. Das kann man illustrativ machen und sagen, dass das ja schon genauso war. Die Geschichte wiederholt sich nicht. Aber gleichzeitig auch synchron Dinge rüber zu holen geht eben auch nicht, weil wir für unsere Situation angesichts unserer Säkularität, die gleich und ungleich ist, Lösungen finden müssen.
Der Unterschied, den ich sehe, ist die protestantisch-lutherische Prägung Deutschlands, während die Niederlande calvinistisch geprägt sind. Das heißt etwas verkürzt gesagt, dass im Calvinismus die Gnadenwirksamkeit in das Kapital und den Besitz fließt, wie wir das in den USA vielleicht auch kennen. Im Luthertum hingegen fließt die Gnadenwirksamkeit – also das, woran man sieht, dass man erwählt ist, dass die Gnade wirksam ist – in Kultur und Bildung.
Es gibt zum Beispiel im Niederländischen kein Wort für Bildung. Daran kann man das auch sehen. Die Durchökonomisierung der ganzen Gesellschaft ist viel sichtbarer. Es gibt Diözesen, die die Lebendigkeit der Pfarreien auch daran messen, ob sie finanziell prosper sind, also ob sie auch finanziell gut aufgestellt sind und überleben können. Das ist in manchen Diözesen ein Kriterium für pastorale Qualität.
Das sind schon sehr große Unterschiede. Aber es gibt auch sehr viele Vergleichbarkeiten, zum Beispiel die Schnelligkeit, mit der die Säkularisierung mittlerweile auch bei uns stattfindet.
DOMRADIO.DE: Vor der Reise der Pastoralkommission haben einige niederländische Theologen, darunter auch der Bischof von s'Hertogenbosch, Gerard de Korte, eine Erklärung veröffentlicht und für eine Einheit Roms mit der Reformation plädiert. Erkennt man daran den Zustand der katholischen Kirche in den Niederlanden oder auch, dass man dort in Fragen der Ökumene schon weiter ist als andernorts?
Loffeld: Das ist etwas, was wir bei unserer Reise sehr stark gemerkt haben, dass es zu einer Ökumene aus Einsicht und Entscheidung an der Basis kommt. Das ist auch typisch Niederländisch. In der Zeit der sogenannten Versäulung, wo man sich auf der sachlichen Ebene unter den weltanschaulichen Lagern wenig einigen konnte, einigte man sich eben unterwegs im Gehen.
Das ist jetzt auch so. Ich habe sehr gute Kontakte zu meinen reformierten Kolleg:innen der reformierten Universität. Während der Reise wurde deutlich, dass wir in dieser Situation gar nicht anders können, als zu kooperieren. Wir wollen aus diesem inneren Bedürfnis heraus keine Monokultur als Christinnen und Christen werden. Wir wollen die verschiedenen Ansätze, die es in der Ökumene gibt, die mit viel Streit entstanden sind, aber vielleicht auch als Bereicherung und nicht als Begrenzung oder als Gegnerschaft begreifen.
Der Glaube an Gott oder das Evangelium soll unsere Motivation oder unsere Magna Carta sein, die viel stärker ist als alle Unterschiede, um die man sich natürlich in der Geschichte sehr stark gestritten hat. Die Säkularität ist eine Lernchance, das Gemeinsame zu betonen und aus den Unterschieden voneinander zu lernen.
DOMRADIO.DE: Also keine Fusion, sondern mehr eine verstärkte Kooperation im pragmatischen Sinne?
Loffeld: Das war bei der Begegnung mit den Altkatholiken sehr interessant. Die Altkatholiken haben uns gezeigt, wie man Synodalität und Evangelisierung verbinden kann. Da kam aus der Gruppe die Frage, was denn sei, wenn man etwas nicht entscheiden könne. Und dann antwortete die Synodenpräsidentin, dass man dann halt ein Jahr warte. Und dann sagte jemand aus der Gruppe, das sei für uns Deutsche undenkbar. Wir müssten immer schnell Entscheidungen haben.
Das ist natürlich auch ein bisschen die Konsenskultur, die dahinter zum Vorschein kommt. Da sagte dann auch jemand, die sind da eben anders. Vielleicht kann man da ja auch lernen und mit bestimmten Entscheidungen noch einmal ein Jahr warten und nicht so einen Druck dahinter setzen. Denn Druck kann auch so ein bisschen eine Spaltungstendenz haben, wenn man eine Entscheidung braucht. Das war sehr lehrreich.
DOMRADIO.DE: Dieser Transformationsprozess in den Niederlanden ist bereits viel weiter als bei uns. Aber er kommt, wenn vielleicht auch in einer anderen Form, auf uns zu. Wir werden sicherlich auf Dinge verzichten müssen. Aber birgt der Prozess auch neue Chancen in sich?
Loffeld: Ich bringe das für mich immer auf den Satz: Da, wo die Kirche am Ende ist, da ist Gott noch lange nicht am Ende. Die Kirche ist an vielen Ecken und an vielen Stellen einfach institutionell am Ende, weil es die Möglichkeiten nicht mehr gibt, aber auch aus anderen Gründen.
Der Bischof von Amsterdam erzählte uns, dass in Amsterdam Ostern 100 Erwachsene getauft worden sind. Ich hatte kürzlich eine Fortbildung mit Pfarrern aus dem Bistum Rotterdam, die alle zweistellige Taufzahlen von Erwachsenen hatten und dem Phänomen noch selber gar nicht trauen, weil man eigentlich nur denkt, es geht runter. Nein, die Zahl der Erwachsenentaufen ist die einzige kirchliche Kennziffer, die hochgeht.
Und das ist interessant, weil das offenbar in Frankreich, wenn man neuesten Nachrichten trauen kann, ähnlich ist. Aus Frankreich las ich dann die schönen Satz: Der liebe Gott scheint es selber in die Hand zu nehmen. Das heißt ja nicht, dass wir nichts mehr tun, alles sein lassen und darauf warten, dass das Neue von selber wächst.
Aber es heißt erstens, dass nicht alles an uns liegt und zweitens stelle ich dann die Frage, auf welche Kirche diejenigen denn treffen, die neu sind. Treffen die auf ein depressives Grüppchen, das sich selbst nichts mehr zutraut? Oder treffen die wirklich auf eine kreative Minderheit, die sich eher als Sauerteig versteht, die wirklich dem Eigenen viel zutraut und daraus lebt und von daher Menschen willkommen heißt? Da ist ein großer Unterschied und das ist hier in der politischen Zusammenarbeit auch zu spüren.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.