Er nannte den russischen Angriff auf die Ukraine wiederholt eine Katastrophe. Unterstützen wollte er den Krieg nicht. Zu dem Zeitpunkt war Pinchas Goldschmidt Oberrabbiner von Moskau und seine Haltung riskant. Wegen des Drucks verließ er im März 2022, kurz nach Kriegsbeginn, mit seiner Ehefrau die russische Hauptstadt – nicht zuletzt auch, um seine Gemeinde zu schützen. Seit Juli desselben Jahres ist er auch nicht mehr Oberrabbiner von Moskau.
Dabei hat Goldschmidt dieses Amt fast 30 Jahre ausgeübt. Mit seiner Familie zog er 1989 in die damalige Sowjetunion, und nach dem Zerfall des Riesenreiches trat er 1993 sein Amt als Oberrabbiner an. Er baute ein Rabbinatgericht auf und war an der Gründung weiterer Strukturen und Organisationen für jüdisches Leben beteiligt.
Nach einem Aufenthalt in Israel wurde ihm 2005 die Wiedereinreise nach Russland verweigert. In seine Gemeinde kehrte Goldschmidt erst drei Monate später zurück – nach internationalen Protesten. Vor zwei Jahren führte ihn dann seine Weigerung, den Krieg in der Ukraine zu unterstützen, in die andere Richtung zurück: nach Israel. Auch jetzt wird er nicht müde, die Regierung zu kritisieren. So sagte er jüngst nach dem Tod von Kremlkritiker Alexej Nawalny, dies sei "eine düstere Mahnung an alle Europäer, was für ein Regime nebenan wohnt".
Karlspreis für Goldschmidt
Am Donnerstag erhielt der 60 Jahre alte orthodoxe Rabbiner in Aachen den Internationalen Karlspreis: "in Würdigung seines herausragenden Wirkens für den Frieden, die Selbstbestimmung der Völker und die europäischen Werte, für Toleranz, Pluralismus und Verständigung, und in Anerkennung seines bedeutenden Engagements für den interreligiösen und interkulturellen Dialog", heißt es zur Begründung. Mit ihm wurden die jüdischen Gemeinschaften in Europa geehrt.
Für sie setzt sich Goldschmidt seit 2011 auch als Präsident der Konferenz der Europäischen Rabbiner (CER) mit Sitz in München ein. Die CER vertritt nach eigenen Angaben rund 800 orthodoxe Rabbiner. Zu Goldschmidts Herzensthemen gehören die Sicherheit von Jüdinnen und Juden in Europa sowie die Religionsfreiheit.
So sprach er etwa im Februar von einem "schwarzen Tag für Europa", nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Grundsatzurteil verkündet hatte, dass Staaten jüdischen und islamischen Religionsgemeinschaften das Schächten, also das betäubungslose Töten von Schlachttieren durch Ausbluten, verbieten dürfen. Das Gericht habe entschieden, dass die Rechte von Tieren wichtiger seien als die Menschenrechte, kritisierte Goldschmidt.
Muslime und interreligiöser Dialog
Was den interreligiösen Dialog anbelangt, beteiligte er sich an dem viel beachteten Dokument "Zwischen Jerusalem und Rom" orthodoxer Rabbiner zur Vertiefung der Beziehungen zu den Christen. 2017 wurde es Papst Franziskus überreicht – den Goldschmidt übrigens schon mehrmals getroffen hat. Goldschmidt ist auch Mitgründer des europäischen Muslim-Jewish Leadership Council, dem hochrangige jüdische und muslimische Würdenträger angehören. Das Ziel: religiösen Frieden erhalten und das gegenseitige Verständnis verbessern.
Goldschmidt warnte aber auch vor muslimischem Antisemitismus, weit vor der aktuellen Situation im Zuge des Krieges zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen als Antwort auf das Hamas-Massaker am 7. Oktober. Seine Haltung dazu hatte er Ende 2023 in der "Jüdischen Allgemeinen" formuliert: "Auch in Europa wird weithin verstanden, dass die Hamas eliminiert werden muss, wenn es einen dauerhaften Frieden geben soll. Nicht nur wegen der Menschen in Israel, sondern auch wegen der Menschen in Gaza."
Goldschmidt kam am 21. Juli 1963 in Zürich zur Welt. Er studierte in Israel und den USA. 1987 wurde er in Israel als Rabbiner ordiniert. 1985 hatte er von der amerikanischen Johns-Hopkins-Universität einen Master in Naturwissenschaften erhalten. Nach CER-Angaben spricht Goldschmidt sieben Fremdsprachen und hat mit seiner Ehefrau Dara sieben Kinder. Er hat mehrere Verwandte in der Schoah verloren, etwa seine ungarischen Urgroßeltern Jacob und Mariam Schwartz, die die Nazis 1944 in Auschwitz-Birkenau ermordet hatten. (Quelle: Leticia Witte (KNA), 09.05.2024)