Mehr Einsatz von Christen für Juden gefordert

"Täter-Opfer-Umkehr in der Protestwelle"

Der starke Anstieg bei den politisch motivierten Straftaten betrifft auch antisemitische Taten. Jürgen Wilhelm von der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit sieht in der Situation die Christen in der Pflicht.

Justiz und Antisemitimus / © Ms. Li (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Die Zahl der politisch motivierten Straftaten hat sich im vergangenen Jahr fast verdoppelt. Es gibt auch einen starken Anstieg bei den antisemitischen Straftaten. Was denken Sie, wenn Sie das hören? 

Prof. Dr. Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V. (Kölnische Gesellschaft)
Prof. Dr. Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V. / ( Kölnische Gesellschaft )

Prof. Dr. Jürgen Wilhelm (Vorstandsvorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit e.V.): Ich denke vor allen Dingen, dass offenbar die Täter-Opfer-Umkehr in der Protestwelle und medialen Berichterstattung darüber funktioniert hat. Denn alles begann mit einem Überfall von Terroristen auf Israel, bei dem bekanntlich 1200 bis 1400 Menschen massakriert worden sind. Es gibt Geiselnahmen und all das, was bekannt ist, aber häufig in Vergessenheit gerät, angesichts der zu erwartenden militärischen Reaktion der Israelis. 

Man muss kein Freund von Israels Ministerpräsident Netanjahu sein, um nun immer wieder deutlich zu machen: Diesen Krieg haben nicht die Israelis begonnen. Die Israelis haben niemanden massakriert, die Israelis haben niemanden als Geiseln genommen, sondern sie versuchen sich zur Wehr zu setzen, auf eine Weise, die umstritten ist. 

Und was das konkret mit Antisemitismus in Deutschland zu tun hat, das vermag ich nicht wirklich zu begründen. Denn die jüdischen Menschen in Deutschland, sind nicht notwendigerweise identisch mit den Israelis oder denken identisch mit den Israelis in Israel. Das sieht man auch an den täglichen, seit Monaten stattfindenden Demonstrationen, in der einzigen Demokratie, die Israel bekanntlich ist. 

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt der Fakt der angestiegenen Straftaten bei den Besprechungen der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit? 

Wilhelm: Die Menschen sind verunsichert. Meine jüdischen Freundinnen und Freunde schicken ihre Kinder nicht mehr einfach so mit dem Fahrrad zur Schule, sie bringen sie zur Schule. Sie sagen, die Kippa soll nicht getragen werden. Der Rabbiner ist schon vor anderthalb Jahren wegen seiner Kippa in der Kölner Straßenbahn angepöbelt und beschimpft worden und trägt selbst als Rabbiner die Kippa nicht mehr, weil er Angst vor politischen Übergriffen hat. 

Dies hat alles nach dem 7. Oktober dramatisch zugenommen. Das treibt uns natürlich um und macht uns auch Sorge. Wir versuchen uns dagegen zur Wehr zu setzen: Wir machen öffentliche Kundgebungen, wir stellen uns vor und hinter unsere jüdischen Freunde. Aber es ist schon eine bedrohliche Situation, die wir alleine nicht in den Griff bekommen können. 

DOMRADIO.DE: Dabei muss auch die Politik handeln und vielleicht mehr unternehmen, als das aufs Schärfste zu verurteilen. Was würden Sie sich wünschen? 

Jürgen Wilhelm

"Politik ist nicht Justiz. Politik ist nicht Medien, nicht Öffentlichkeit."

Wilhelm: Na ja, auf die Politik zu schimpfen ist immer richtig. Und das ist auch die Aufgabe der öffentlichen Hand und des Journalismus. Aber es geht natürlich auch darum, dass die Justiz, die dritte Gewalt in unserem Staate, vernünftig, schnell und unbürokratisch die Täter aburteilt. Sie sollte nicht, wie das leider häufig vorkommt, die Strafverfahren einstellen, nicht weiter verfolgen oder monatelang nicht bearbeiten, wegen Personalmangel beispielsweise.

Auch die Justiz muss mittun, damit sozusagen die Strafe auf dem Fuße folgt, was ja schon seit Jahren nicht mehr geschieht. Also was nützen strengere Gesetze? Was nützt es, das aufs Schärfste verurteilen? Was sollen wir sonst machen? Politik ist nicht Justiz. Politik ist nicht Medien, nicht Öffentlichkeit. Politik kann Gesetze ändern, aber die Gesetze sind im Grunde gut genug. Die Anwendung - daran hapert es häufig. 

DOMRADIO.DE: Wir sprechen immer von der "Staatsräson", die Israel das Existenzrecht als unverrückbar einräumt. Das Grundgesetz wird in diesen Tagen 75 Jahre alt. Denken Sie, da sollte etwas zu dem Thema drinstehen?

Wilhelm: Ich bin als Jurist ein Gegner der dauernden Veränderungen des Grundgesetzes für dies und jenes. Es mag Werte geben und die hat es auch in der Vergangenheit gegeben, bei denen man veränderten gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen auch einen Wert zugesteht und die ins Grundgesetz hineinschreibt oder das Grundgesetz adaptiert. 

Aber ob die Staatsräson für Israel in das Grundgesetz gehört? Sie haben eben die Politik kritisch angefasst - was nützt das also? Ja, es hätte einen moralischen Wert, aber in der Konsequenz, in der Umsetzung dessen, was wir politisch wollen, würde es nur sehr wenig helfen. 

DOMRADIO.DE: Was ist die Aufgabe der Christen, wenn Juden und Christen gut zusammenleben wollen? 

Jürgen Wilhelm

"Das hilft der absoluten Minderheit von jüdischen Menschen natürlich sehr."

Wilhelm: Die Christen sollten das tun, was Gott sei Dank ja schon vielfach getan wird. Evangelische und katholische Kirche gehen auf die jüdischen Freunde zu. Es gibt auch hier in Köln, in der Region und darüber hinaus ein gutes Miteinander. Aber wenn Not am Mann ist, ist Öffentlichkeit dazu aufgerufen, auch mal auf eine Demo zu gehen und Solidaritätsadressen kundzutun. Das hilft der absoluten Minderheit von jüdischen Menschen natürlich sehr. 

Das Interview führte Clemens Sarholz.

Quelle:
DR