KNA: Wie sieht Ihr Alltag aus; in welchen Situationen wird es gefährlich?
Stephan Wahl (Priester und Israel-Experte): Ich lebe wohl an einem der sichersten Orte: im palästinensischen Teil der Stadt. Aller Wahrscheinlichkeit werden weder Hamas noch Hisbollah auf Ostjerusalem zielen, um keine Palästinenser zu gefährden und Al-Aqsa-Moschee oder Felsendom nicht versehentlich zu treffen.
Ich kann mich frei in meinem Viertel bewegen, genieße das sonnige Jerusalemer Klima, aber der immer präsente Gedanke, dass 80 Kilometer entfernt am 7. Oktober dieses entsetzliche Pogrom stattgefunden hat und seitdem in Gaza gelitten und gestorben wird, belastet mich zutiefst. Dazu die Gräuel in der Westbank, jetzt der Norden und Libanon. Ich kann nichts tun, das ist lähmende Hilflosigkeit.
KNA: Reden die Nachbarn offen mit Ihnen oder wie beeinflusst der Krieg das menschliche Miteinander?
Wahl: Ich kenne nur Menschen, die unter der grauenhaften Situation leiden: Meine palästinensischen Vermieter, Nachbarn und Freunde leiden unter dem israelischen Vernichtungsfeldzug in Gaza oder dem Terror der Siedler. Und meinen liberalen israelischen Freunden steckt der grausame 7. Oktober noch tief in den Knochen und die Wut über ihre primär nur auf Machterhalt bedachte Regierung mit ihrem moralfreien Premier und zwei offen faschistoiden Ministern.
KNA: Was können Sie als Priester der israelischen Gesellschaft geben?
Wahl: Als Priester gar nichts; Christen sind im Land eine verschwindend kleine Minderheit und politisch weitestgehend unbedeutend. Im Winter habe ich in Deutschland eine Lesereise unternommen, um Geld für Hilfsprojekte zu sammeln und dabei ein bisschen der einseitigen Berichterstattung entgegenzuwirken. Hier im Land habe ich mittlerweile Lesungen meiner Texte auf Englisch gehalten und kann eigentlich nur durch mein Hierbleiben meine Solidarität mit beiden Völkern ganz praktisch zum Ausdruck bringen.
KNA: Was muss geschehen, um ein Ende des Kriegs zu erreichen?
Wahl: Beide Seiten müssen trotz aller entsetzlichen Wunden über ihren Schatten springen, zähneknirschend Kompromisse eingehen und endlich den immer noch nicht vereinbarten Deal eingehen - leider bis jetzt ein Wunschtraum.
KNA: Die Familien der Hamas-Geiseln setzen sich auch in EU-Ländern für eine Lösung ein; wie wird ihre Rolle in Israel gesehen?
Wahl: Die Familien der Geiseln leiden entsetzlich und fühlen sich von der Regierung verlassen. Viele denken, dass sie die Geiseln längst aufgegeben hat und den Familien ist völlig unverständlich, dass die Befreiung und Heimkehr der Geiseln nicht das erste und primäre Ziel ist, sondern die völlig utopische und blendende Rede vom "totalen Sieg" über die Hamas.
KNA: Es gibt Massendemonstrationen gegen die Regierung, was ist das Hauptziel?
Wahl: Die Freilassung der Geiseln. Es sind keine Massendemonstrationen gegen den Krieg oder die Unverhältnismäßigkeit der israelischen Kriegsführung. Wären die Geiseln morgen frei, würden die großen Massendemonstrationen zahlenmäßig erheblich schrumpfen, wenn es sie überhaupt geben würde. Die Mehrheit der Israelis ist für den Krieg, auch wenn sie die Art und Weise, wie er geführt wird, teilweise kritisiert.
KNA: Können Deutschland und Europa zur Beendigung des Krieges beitragen?
Wahl: Die Außenministerin tut ihr Bestes auf die Kriegsparteien einzuwirken, aber selbst der amerikanische Präsident scheitert an der Sturheit und Kaltschnäuzigkeit des israelischen Premiers und dem Fanatismus der Hamas. Deutschland muss weiter an der Seite Israels stehen. Jedem Versuch, dessen Existenzberechtigung in Frage zu stellen, ist klar entgegenzutreten. Zugleich darf man nicht die Augen vor dem Leid der Palästinenser verschließen und muss Israel deutliche Ansagen machen.
KNA: Sie sammeln Geld, etwa mit Lesereisen - welche Projekte werden damit unterstützt?
Wahl: Im Winter war ich in 20 deutschen Städten. Die Spenden gingen in die Sozialfonds der katholischen und der evangelischen Kirche - das Lateinische Patriarchat hat eine Pfarrei in Gaza und die evangelische Erlöserkirche engagiert sich in der Westbank. Auch ein Hilfsprogramm für behinderte palästinensische Jugendliche und das Caritasbaby Hospital in Bethlehem erhielten Geld.
KNA: Sie leben in Jerusalem, was hält Sie trotz des Krieges in Israel?
Wahl: Ich bin seit einem Schüleraustausch meiner Bonner Schule in Tel Aviv und einem sehr prägenden Jerusalemer Studienjahr mit Israel verbunden. Wenn es nicht etwas drastisch übertrieben klingen würde, könnte ich sagen - ich habe mich damals in Jerusalem "verliebt". Die Stadt begeistert mich immer wieder und sie treibt mich gleichzeitig oft nahe an den Wahnsinn. Aber Jerusalem ist für mich der Ort, an dem ich trotz allem gerne morgens erwache und meiner Hauptbeschäftigung positiv und kreativ nachgehen kann: dem Schreiben. Vernünftig im strengen Sinne ist meine Entscheidung sicher nicht, aber das sind Poeten selten.
Das Interview führte Matthias Jöran Berntsen.