Drei Helferinnen aus dem Libanon berichten von ihren Erfahrungen

"Manche wollen einfach nur sterben"

Im Libanon leben Menschen verschiedenster Religionen. Ein Drittel sind Christen. 1,2 Millionen Bewohner sind laut Regierungsangaben auf der Flucht. Schwester Annie und ihr Team helfen diesen Menschen mit Geld und Hilfsgütern.

Autor/in:
Clemens Sarholz
Eine vertriebene Familie steht neben ihrem Zelt als provisorische Unterkunft / © Bilal Hussein (dpa)
Eine vertriebene Familie steht neben ihrem Zelt als provisorische Unterkunft / © Bilal Hussein ( dpa )

Ein helles Büro. Kaltes Licht. Im Hintergrund von Schwester Annie, die per Zoom zugeschaltet ist, verpackt ein siebenköpfiges Team Hilfsgüter für Kriegsflüchtlinge im Libanon. Windeln, Decken, Trinkwasser – "Viele Flüchtlinge aus dem Süden werden von christlichen Familien aufgenommen", sagt sie. Die libanesische Regierung rechnet mit 1,2 Millionen Flüchtlingen, 400.000 sollen Kinder sein.

DOMRADIO.DE: Schwester Annie, Sie sagten im Vorhinein, dass Sie nicht über die politische Situation sprechen möchten. Darf ich Sie fragen, wieso?

Schwester Annie (links) verteilt Kleidung an verarmte Familien im Libanon. / © RJM
Schwester Annie (links) verteilt Kleidung an verarmte Familien im Libanon. / © RJM

Schwester Annie Demerjian (Schwester der Ordensgemeinschaft der Schwestern Jesu und Mariens): Die Antwort ist einfach. Wir wissen nicht was los ist. Was ist die Realität? Wieso gibt es diesen Krieg überhaupt? Das weiß keiner so genau. Das Wichtigste für mich sind unsere Brüder und Schwestern, die wegen des Krieges leiden.

DOMRADIO.DE: Wo befinden Sie sich gerade?

Schwester Annie: Wir sind in unserem Büro in Beirut, Bourj Hammoud. Die meisten Menschen hier sind Christen und arm. Hier gibt es viele Kirchen. Vor dem Krieg haben wir den armen Familien mit Essen geholfen. Seit der Explosion im Hafen vom 4. August 2020 und der Wirtschaftskrise, die dadurch kam, sind die Menschen am Boden zerstört und in großer Not.

Schwester Annie entschuldigt sich. Sie müsse den Computer wechseln. Sie haben technische Probleme – nur zwei Stunden am Tag funktioniere die Stromversorgung. Dann ist das Bild weg. Wenige Minuten später ist das Bild wieder da. Fünf Menschen winken in die Kamera und lachen. "Wie geht’s dir?", fragen sie. Es sind freiwillige Helfer. Rima ist eine von ihnen. Sie setzt sich vor den Bildschirm.

DOMRADIO.DE: Was erleben Sie?

Rima Abi Karam: Die Situation? Schwer zu erklären. Die Menschen strömen aus dem Süden zu uns. Es gibt keinen vorbereiteten Platz für sie. Einige sind bei Verwandten untergekommen, in Gebieten, die derzeit noch sicher scheinen. Die Menschen kamen ohne Kleidung, ohne Essen, ohne irgendwas. Einige von ihnen sitzen jetzt in der Nähe der Kirchentür. Wir versorgen sie so gut wir können, auch mit Bargeld, aber wir wissen nicht wohin das alles noch führt. Jeden Tag kommen mehr und mehr Familien.

DOMRADIO.DE: Wie viele Familien sind bisher gekommen?

Abi Karam: Etwa 300 Familien, vor allem Christen aus verschiedenen Regionen im Süden des Libanon. Gestern kamen zehn weitere Familien.

Schwester Annie

"Raketen erkennen den Unterschied zwischen Muslimen und Christen nicht."

DOMRADIO.DE: Schwester Annie, Sie sagten, dass vor allem die christlichen Familien Flüchtlinge aufnehmen. Wieso gerade die?

Schwester Annie: Raketen erkennen den Unterschied zwischen Muslimen und Christen nicht. Raketen schlagen nur ein. Im Süden, wo die Raketen einschlagen, gibt es viele Muslime und Christen. Viele von ihnen sind auf der Flucht und werden dann hier von den Christen aufgenommen.

Rima Abi Karam: Die Nachrichten zeigen vor allem die Situation der Schiiten. Niemand spricht über die christlichen Familien, die ihre Häuser verlassen und alles zurücklassen mussten. Es gibt hier wirklich sehr viele Christen.

DOMRADIO.DE: Wie hat sich die Situation seit Kriegsbeginn verschlimmert?

Abi Karam: Schon vor dem Krieg war die Situation sehr schlecht. Durch die Inflation hatten die Menschen nicht mehr genug Geld, um sich Lebensmittel zu kaufen. Die Menschen, die sich etwas gespart haben, haben wegen der Inflation nichts mehr. 

Schwester Annie: Auch wir, die Schwestern unserer Gemeinschaft leben von Tag zu Tag. Nach der Explosion und dem Erdbeben wurde die Mittelschicht arm und die Armen wurden zu den Ärmsten. Hier gibt es nicht genug zum Leben. Alles ist teuer geworden. Keine Medikamente mehr, keine Versicherungen mehr.

Abi Karam: Ein großes Problem ist die Elektrizität. Wir haben keinen Strom. Ein Generator kostet etwa 100 Dollar und die Familien können sich das nicht leisten.

DOMRADIO.DE: Wie sieht es ansonsten mit der Infrastruktur aus?

Schwester Annie: Trinkwasser gibt es auch nicht genug, die Leute müssen es kaufen. Sie nehmen ihre Kinder wegen der hohen Gebühren von den Schulen. 

Eine dritte Person setzt sich vor die Kamera. Sie stellt sich vor. Rita arbeitet auch für die Ordensgemeinschaft der Schwestern Jesu und Mariens. Sie berichtet von der Korruption, die das Land beherrscht.

Rita Jabbour: Die Regierung ist so korrupt, dass im Grunde alle Steuern veruntreut werden. Es gibt keine Instandhaltung, wir nutzen die Infrastruktur aus den 70er Jahren, die wahrscheinlich nicht mehr lange halten wird. Die Leute machen hier ihr eigenes Ding. Sie reparieren alles selbst, die Wasserleitungen, den Strom; sie reinigen die Straße, all die grundlegenden Dinge. Wir haben hier nicht mal eine Sozialversicherung und die Gesundheitsversorgung ist katastrophal.

Sie sprechen über die Projekte, die den Menschen helfen. Sie sprechen darüber, wie sie Initiativen starten, um Jeans zu nähen, wie sie Kindern Weihnachtsgeschenke machen und alles im Kleinen organisiert wird. Sie sprechen von den Menschen, die ihre "Länder, ihre Dörfer, ihr Leben, alles verlassen haben" und die nur mit ihren Papieren geflüchtet sind, "wenn überhaupt". Dann ist die Verbindung weg. Fünf Minuten später sind sie wieder da: "The internet went", sagt Schwester Annie.

DOMRADIO.DE: Wie haben die Menschen und die vielen verschiedenen Religionen, vor dem Krieg, zusammengelebt? 

Schwester Annie: Es gab niemals Probleme. Sunniten, Schiiten, Christen, Muslime, Drusen - alle haben friedlich zusammengelebt. Derzeit ist die größte Angst in einen Bürgerkrieg hineinzugeraten, weil das Land so instabil ist. Wenn wir nicht das Geld aus dem Ausland hätten, von Eltern oder Cousins und Cousinen, könnte man hier nicht existieren. Das Geld aus dem Ausland ist der Hauptgrund dafür, dass die Menschen trotz der vielen Schwierigkeiten weitermachen können.

DOMRADIO.DE: Waren Sie auf die Angriffe vorbereitet?

Abi Karam: Nein.

DOMRADIO.DE: Wie hat der Krieg für Sie begonnen?

Abi Karam: Unsere Freunde haben uns um Hilfe gebeten. Dann haben wir angefangen, die Hilfsgüter zu verteilen. Gott sei Dank ist das Wetter jetzt noch gut, aber in 15 Tagen wird der Regen kommen und der wird ein großes Problem sein. Es sind viele Familien auf den Straßen. Sie haben keine Unterkunft.

Schwester Annie: Niemand hat damit gerechnet, dass der Krieg beginnt und so viele Menschen kommen. Deshalb waren wir auch geschockt. Viele Organisationen waren bereit zu helfen. 

DOMRADIO.DE: Ist es schwierig, die Waren über die Grenze zu bringen?

Schwester Annie: Darüber spreche ich nur ungern, weil ich immer wieder die Grenzen überschreite. Manchmal müssen wir viel Geld dafür bezahlen, dass die Waren über die Grenzen kommen. Manchmal, mit der Vorsehung Gottes, kommen unsere Waren ins Land. Manchmal konnten wir aber ganze Container nicht in Empfang nehmen.

DOMRADIO.DE: Was erzählen Ihnen die Menschen, die zu Ihnen kommen?

Jabbour: Sie sind geschockt, wütend, hilflos und hoffnungslos! Wir waren für lange Zeit im Überlebensmodus: das Erdbeben letztes Jahr, die Pandemie, die Explosion, die Inflation, als die Banken uns das Geld weggenommen haben. Wir haben in der Vergangenheit viele Kriege und Krisen erlebt. Mittlerweile sind viele Leute nicht bereit weiterzumachen. Manche wollen einfach nur sterben. Das war's. Sterben ist besser als dieses Leben. Das ist es, was viele Menschen im Moment sagen.

DOMRADIO.DE: Haben Sie Angst? 

Jabbour: Alles kann zu jeder Zeit passieren. Wir sind nirgendwo sicher. Aber was können wir tun?

Abi Karam: Wir leben von Tag zu Tag, von Moment zu Moment. 

Schester Annie 2020 bei einem Besuch einer notleidenden Familie in Syrien im Jahr 2020. / © RJM
Schester Annie 2020 bei einem Besuch einer notleidenden Familie in Syrien im Jahr 2020. / © RJM

Schwester Annie: Ich habe während des Krieges in Aleppo gelebt. Das war die schwierigste Zeit für uns. Oft bin ich zu den Bunkern gelaufen, unser Kloster wurde oft von Raketen getroffen. 

Aber wenn wir unsere Leute verlassen, was ist das für ein Zeichen unserer Mission oder meines geweihten Lebens? Was ist das für ein Zeichen, wenn ich einfach an einen friedlichen Ort gehe und die Menschen verlasse?

Die Kirche ist ein Zeichen. Priester, Schwestern und Bischöfe sind Zeichen der Hoffnung für viele Christen - für viele Menschen, nicht nur für Christen. Die Kirche gibt Hoffnung. Wir weinen mit den Menschen, wir lachen mit ihnen.

DOMRADIO.DE: Wie können wir von Deutschland aus helfen?

Schwester Annie: Da möchte ich der Caritas Paderborn einen großen, großen Dank aussprechen. Unsere Beziehung geht über Geld und Güter hinaus. Sie drücken uns ihre brüderliche und schwesterliche Sorge aus. Es ist wie der Heilige Paulus gesagt hat: "Wenn ein Teil des Körpers leidet, leider der ganze Körper." Diese Unterstützung tut sehr gut.

Schwester Annie

"Der Krieg ist die große Zerstörung des Familienlebens."

Schwester Helen, unsere Oberin, sagte immer, dass es um mehr geht als um Geld. Wir müssen eine Mentalität der Fürsorge entwickeln und uns wirklich umeinander kümmern, ganz gleich, welcher Ethnie wir angehören oder was wir tun. Wir müssen in den Familien damit beginnen. Der Krieg ist die große Zerstörung des Familienlebens. Und genau das ist es, was wir hier erleben.

 Schwester Annie Demerjian und Schwester Helen Haigh, die Provinzoberin aus England der "Ordensgemeinschaft der Schwestern Jesu und Mariens" / © Markus Jonas/Caritas Paderborn
Schwester Annie Demerjian und Schwester Helen Haigh, die Provinzoberin aus England der "Ordensgemeinschaft der Schwestern Jesu und Mariens" / © Markus Jonas/Caritas Paderborn

Viele Eltern haben versucht, ihre Kinder ins Ausland zu schicken und sie in Sicherheit zu bringen. Wir haben einen sehr starken Familiensinn und der Krieg versucht, ihn zu zerstören. Wir müssen den Sinn füreinander wiederherstellen, nicht nur in der Blutsfamilie, auch in der spirituellen Familie. 

Alles was wir erzählt haben, ist nichts im Vergleich zu dem, was vor Ort geschieht. Es ist mehr als eine Katastrophe und es wird noch schlimmer werden. Wir wissen nicht, ob wir in Zukunft überhaupt noch Internet haben und in der Lage sein werden, mit Ihnen zu sprechen. 

Wir bitten also die Menschen dringend, uns nicht zu vergessen. Die Nachricht, was hier passiert, muss verbreitet werden.

Abi Karam: Allein das Darübersprechen gibt uns schon Unterstützung.

Das Interview führte Clemens Sarholz.

Der Libanon

Der Libanon ist geprägt durch das Nebeneinander zahlreicher Religionen. Mit etwa 30 Prozent hat die parlamentarische Demokratie den größten Anteil Christen in der Arabischen Welt. Die Muslime - Sunniten und Schiiten - machen inzwischen wohl mehr als 60 Prozent aus. Offiziell anerkannt sind 18 Religionsgemeinschaften, darunter die Minderheiten der Drusen und Alaviten.

Symbolbild: Flagge des Libanon / © Yulia Grigoryeva (shutterstock)
Symbolbild: Flagge des Libanon / © Yulia Grigoryeva ( shutterstock )
Quelle:
DR