DOMRADIO.DE: Herr Burggrabe, Ihr neues Oratorium trägt den Namen "Katharina" und ist der letzten Äbtissin des Fraumünster-Klosters in Zürich gewidmet, die vor 500 Jahren inmitten großer kirchlicher Umbrüche eine ungewöhnliche Entscheidung von fast visionärer Tragweite getroffen hat. Daher heißt es im Untertitel des Werkes auch "Über Aufbruch und Erneuerung". Wer war Katharina von Zimmern, und was genau hat Sie an dieser Biografie zu Ihrer Komposition inspiriert?
Helge Burggrabe (Komponist): Bei der Anfrage nach einem solch großen, umfangreichen Werk muss bei mir sofort ein Funke überspringen und eine Relevanz für heutige Fragen des Glaubens und Lebens erkennbar sein. Katharina von Zimmern war kunstaffin, humanistisch gebildet und eine überregional prägende Persönlichkeit, die gespürt hat, dass die Zeit für eine Erneuerung da ist. Ende 1524 überschrieb sie daher aus freien Stücken das Kloster mit allen Ländereien und Besitztümern – und damit ihre eigene materielle und spirituelle Basis – der Stadt Zürich, um dieser "große Unruhe und Ungemach" angesichts der Gefahr eines Bürgerkriegs zu ersparen. Damit beendete sie nicht nur eine jahrhundertealte Klostertradition, sondern förderte wesentlich die aufkommende neue Bewegung der "Reformation". Das neue Oratorium erzählt von dieser inneren Wandlung der Katharina; von einer Frau, die nicht in ihrer Zeit stehen geblieben ist, sondern die Zeichen der Zeit erkannt hat.
DOMRADIO.DE: Dieses Auftragswerk des Fraumünster Chors Zürich ist Ihr fünftes Oratorium. Die letzte Uraufführung gab es mit dem Dreikönigsoratorium 2022 im Kölner Dom aus Anlass der 700-Jahrfeier des Hochchores. Aber auch schon bei "Stella Maris", "Jehoschua" oder "Lux in tenebris" lag Ihr Augenmerk stets auf der Fähigkeit, mit dem Gesang innere und äußere Räume zu öffnen. Können Sie näher erklären, was genau Ihr künstlerisches Anliegen ist?
Burggrabe: Bei der Würdigung einer für ihre Zeit bedeutenden Persönlichkeit oder Fragestellung bietet ein Oratorium – anders als beispielsweise ein historisierendes Theaterstück – immer auch die Chance, eine geistliche Dimension auszuloten. Insofern hat mich weniger das rein Biografische oder Historische interessiert – also die Stadtgeschichte oder die Änderungen der Klostertradition in der Reformation – als vielmehr der innere Wandel, der sich in Katharina vollzogen haben muss. Diesem wollte ich nachspüren. Die Dramaturgie des Oratoriums orientiert sich daher an dem Buchstaben "U". Katharina erkennt an, dass etwas zu Ende geht – vergleichbar dem Bibelwort vom sterbenden Weizenkorn, das einen Transformationsprozess durchlaufen muss, um in einer neuen Form aufblühen zu können.
Mithilfe einer solchen Dramaturgie habe ich versucht, mich dem anzunähern, was Katharina wohl damals erlebt hat und was zugleich einem grundsätzlichen Lebensprinzip entspricht und insofern auch uns heutige Menschen bewegt: Sind wir bereit, Dinge "sterben zu lassen", damit neues Leben entstehen kann? Auch in unserer Zeit gerät ja gerade einiges, um nicht zu sagen vieles, ins Wanken, was vielleicht zu Ende gehen muss, damit dann etwas wirklich Neues mit Lebens- und Geisteskraft entstehen kann.
Als geistliche Handlung kann ein Oratorium auf zwei Ebenen wirken: Ein kirchlicher Raum kann als Bauwerk, in dem es aufgeführt und in dem eine geistliche Geschichte erzählt wird, neu erlebt werden. Und gleichzeitig werden Resonanzen zu inneren Räumen und Fragen hergestellt, die in dem Musikwerk thematisch „verhandelt“ werden. Dieses Sich-Bewegen-Lassen ist für mich eine Umschreibung von lebendiger Spiritualität.
DOMRADIO.DE: Eine wichtige Basis bildet für jedes Ihrer Oratorien immer das Libretto, das zugleich wie eine inhaltliche Klammer fungiert und in dem oft alte mit zeitgenössischen literarischen Texten verknüpft werden. Diesmal haben Sie das Libretto gemeinsam mit der Autorin Giannina Wedde erarbeitet. Sprecherin wird die aus Film und Fernsehen bekannte Schauspielerin Julia Jentsch sein, die in die Rolle der Katharina schlüpft.
Burggrabe: Das Textbuch, in dem sich sprachlich die Dramaturgie abbildet, ist immer der Ausgangspunkt. Als Quellen für das Libretto dienen die Bibel und auch Lyrik als eine sehr verdichtete Sprachform. Die eigens für das Oratorium von Giannina Wedde geschriebenen Texte mussten allerdings noch um ein weiteres Element, nämlich um Aussagen von Katharina, ergänzt werden. Ich habe mir das tagebuchartig vorgestellt: dass Katharina sich immer wieder zu Wort meldet und man Schritt für Schritt mitbekommt, was sie bewegt. Da es keinerlei schriftliche Überlieferungen von ihr gibt, mussten diese Texte neu geschrieben werden. Auch das hat Giannina Wedde übernommen, was ein absoluter Glücksfall war. Sie hat sich in die Äbtissin sozusagen hineinversetzt und so ganz neue fiktive Worte für sie gefunden. Eine solche inspirierende Zusammenarbeit ist wunderbar, weil dann nicht nur auf der Ebene der Musik, sondern bereits bei der Textvorlage etwas ganz Originäres, Neues entsteht.
DOMRADIO.DE: Sie sagen, Katharina von Zimmern habe die Zeichen der Zeit erkannt und innerlich einen Wandlungsprozess durchlebt. Wie drückt man diesen Prozess in einer Komposition aus?
Burggrabe: Die neuen Impulse vor gut 500 Jahren – erst durch Luther und dann durch Zwingli in der Schweiz – sorgten seinerzeit auch für große Unruhe und drohende Auseinandersetzungen. Die Dynamik der Ereignisse sollte sich im Oratorium widerspiegeln. So habe ich das Werk in drei Teile aufgeteilt. Im ersten Teil geht es um das Absterben, im zweiten um das Innehalten und die Transformation, und im dritten Teil wird das Aufblühen zum Thema: Neues entsteht. Das wird konkret durch die Monologe, die Katharina spricht – verkörpert durch Julia Jentsch. Und dann gibt es die Chöre, die gemäß der alten Oratoriumstradition die Gemeinde, also uns Menschen, repräsentieren. Entsprechend unruhig und atonal beginnt der erste Teil: Es geht um Verunsicherung, Furcht und Angst; ein Lebensgefühl, das auch heute wieder viele Menschen haben.
Der tragende Grund, Stabilität und Sicherheit geraten ins Wanken. Langsam verwandelt es sich dies mehr und mehr in ein Annehmen dessen, was ist, in ein Abschiednehmen und Trauern, was in melancholischer Musik zum Ausdruck kommt. Das Ganze geht im zweiten Oratoriumsteil bis in einen Nullpunkt hinein, wo sich Formen auflösen und auch die Musik ihren Halt verliert, indem sich Harmonien stetig ändern wie die Farben eines Chamäleons. Es geht um pure Verwandlung. An dieser Stelle habe ich auch Teile des Bibelzitates "Ein jegliches hat seine Zeit" aus dem Buch der Prediger vertont. Zum Abschluss singt die Gemeinde dann das hebräische Wort "Hineni" – Hier bin ich – als Ausdruck der Bereitschaft, den Nullpunkt anzunehmen, und damit bereit zu sein für das radikal Neue. Im dritten Teil erklingt dann allmählich das Neue mit kraftvollen Stücken.
Das ganze Oratorium ist dialogisch aufgebaut: Auf der einen Seite ist die göttliche Stimme, die hier „das Werdende“ genannt wird und den gesamten Prozess begleitet. Sie ruft die Menschen und versucht stets, sie zu erreichen. Die Menschen andererseits rufen nach Gott, im zweiten Teil beispielsweise mit den Worten "Aus der Tiefe rufe ich zu dir". Das Oratorium erzählt insofern von einer großen Sehnsucht nach gegenseitiger Berührung und lebendiger Begegnung.
DOMRADIO.DE: Wie aktuell oder zeitlos ist diese Botschaft? Sehen Sie Parallelen zum Hier und Jetzt?
Burggrabe: In "Katharina" geht es letztlich um ein Lebensprinzip an sich. Nichts ist im Leben statisch, alles ist immer im Wandel. Insofern wird etwas zeitlos Gültiges beschrieben: Etwas, das sterben muss, gibt den Raum frei für das Neue. Das lässt sich auf alle Bereiche übertragen. Im Rückblick wird das, was vor 500 Jahren geschehen ist, als Reformation bezeichnet. Aber das wirklich Interessante hinter diesem historischen Ereignis ist doch die Frage: Schaffen wir es, Reformation als immerwährenden Prozess zu leben, zumal Glaube doch immer das Ziel haben müsste, die Lebendigkeit zu fördern – und nicht Formen zu verwalten. Wenn Glaube zu sehr in die Form geht, dann droht ihm Erstarrung und dann hat die Form keine dienende Funktion mehr, sondern wird zum Selbstzweck. Doch der Gradmesser für all unser Tun – damals wie heute – ist immer die Lebendigkeit des Glaubens
DOMRADIO.DE: Im "Dreikönigsoratorium" ziehen sich Weg und Suche wie ein Leitmotiv durch das Werk. Haben Sie auch bei „Katharina“ eine Metapher, an der entlang Sie die Komposition entwickeln konnten? Welche Rolle spielt zum Beispiel Mut in Zeiten gesellschaftlicher Spaltung und einer zunehmenden Polarisierung von Überzeugungen?
Burggrabe: Eine Art roter Faden war für mich das Thema der Lebendigkeit, sich also mutig dem Prozess von Werden und Vergehen anzuvertrauen. Dabei spielt das innere Gefestigt-Sein gepaart mit innerer Beweglichkeit – heute nennen wir das Resilienz – eine wichtige Rolle. Und damit kommt dann auch der Glaube, die „religio“ als Anbindung an das Höhere, mit ins Spiel, der Menschen großen Halt geben kann. Ja, für mich ist Katharina von Zimmern ein leuchtendes Vorbild für ein tiefes Verankert-Sein im Glauben, für Mut und Weitsicht sowie für die Kunst des Loslassens. Sie hat gespürt, da ist etwas nicht mehr tragfähig, ohne zu wissen, was danach kommt. Dieses Risiko ist sie eingegangen. Das ist schon außergewöhnlich, und das können und sollten wir uns heute auch getrost zu Herzen nehmen: nicht mehr lange an etwas festzuhalten, von dem wir spüren, das es nicht mehr trägt, sondern den Mut zu haben, etwas Neuem Raum zu geben, das anscheinend schon wartet.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.