DOMRADIO.DE: Wie überraschend kam der Rücktritt für Sie?
Johannes Arens (anglikanischer Priester und Domkapitular an der anglikanischen Kathedrale in Leicester): Der kam überhaupt nicht überraschend. Ich habe gestern Morgen im Radio gehört, dass der Druck zunimmt. Von da an war es nur noch eine Frage der Zeit. Ich habe die letzten Stunden darauf gewartet, dass er zurücktritt. Seitdem dieser "Makin Report" in der vergangenen Woche veröffentlicht wurde, war der Druck enorm.
Das ist, glaube ich, das erste Mal, dass es vonseiten der Bischöfe und Priester eine Petition gibt, die den Erzbischof auffordert, zurückzutreten. Diese Petition hat sich in den letzten 36 Stunden wie ein Lauffeuer ausgebreitet.
DOMRADIO.DE: Selbst der Bischof von Newcastle hat den Erzbischof von Canterbury aufgefordert zurückzutreten. Ist das ein Zeichen, dass das Vertrauen innerhalb der Kirche von England erschüttert ist?
Arens: Das ist ein ganz extremes Zeichen, dass ein Bischof seinen Erzbischof, den Metropoliten, sagt, er soll zurücktreten. Das ist unerhört. Da muss man sich als Bischof sehr sicher sein, bevor man mit so einer Forderung an die Öffentlichkeit geht.
DOMRADIO.DE: Welby galt durchaus als beliebter Kirchenmann. Er war ein Quereinsteiger und konnte Schwäche zeigen. Was haben diese Vorwürfe bei seinen Anhängern ausgelöst?
Arens: Welby hat - wie viele andere auch - Schwächen und Stärken. Er hat mit Sicherheit sehr viele Stärken auf dem internationalen Parkett, weil er aus einem komplett anderen Betätigungsfeld, der Ölindustrie, kommt. Er hat jedoch auch Schwächen.
Es gibt hier in England eine Diskussion wie in Deutschland. Wir haben einen massiven Druck, Pfarreien zusammenzulegen. Wir haben Probleme mit Geld, was niemanden in Deutschland überraschen dürfte. Wir haben riesige Probleme, wie es mit Pfarreien weitergehen soll. Es gibt Leute, die sehen das durchaus kritisch, andere hingegen durchaus positiv. Das ist überall das Gleiche.
Es geht hier nicht um sexuellen Missbrauch, sondern um sexualisierte Gewalt. Das ist zwar immer sexuellem Missbrauch, aber im konkreten Fall geht es um jemanden, der in den 70er- und 80er-Jahren eindeutig Kinder und Jugendliche brutal geschlagen hat, wahrscheinlich zu seinem sexuellen Vergnügen. Welby war Teil dieser Jugendcamps und sagt, durchaus überzeugend, dass er, davon als junger Mann nichts mitbekommen habe. Das kann man so stehen lassen.
Der Haken ist jetzt aber nicht, dass dieser historische Fall wieder hochkommt, sondern dass Welby seit 2013 davon gewusst hat. Die Problematik mit John Smyth ist, dass bis 2017, also vier Jahre lang, nichts passiert ist. Das ist das katastrophale. Es geht nicht um seine persönliche Lebensführung, sondern darum, dass er vier Jahre nicht reagiert hat, als er reagieren hätte müssen.
DOMRADIO.DE: Was für Aufgaben kommen Welbys Nachfolger oder Nachfolgerin zu? Was ist Ihrer Ansicht nach jetzt wichtig zu tun?
Arens: Meines Erachtens hat das teilweise systematische Ursachen. Seit fast 25 Jahren nehme ich an Kursen zum Thema Kinderschutz teil, die für alle Pfarrer verpflichtend sind. Der Verwaltungsaufwand wird bei dem Thema immer größer. Das führt zu Stress, weil es katastrophale Folgen hat, wenn im Bereich von Kinderschutz etwas falsch läuft.
Ich denke, es wird endlich Zeit. Die Zeit für Entschuldigungen ist vorbei. Es wird endlich Zeit, den ganzen Bereich auf unabhängige Füße zu stellen. Wir haben exakt das gleiche Problem wie die Kirchen in Deutschland. Meines Erachtens ist es ein systemischer Grund, dass man sich zu nahe ist.
Ich kenne jede Menge andere Priester aus dem Seminar, aus Netzwerken, aus Veranstaltungen. Die Bischöfe haben hier - genau wie in Deutschland - das Problem, dass sie widersprüchliche Aufgaben haben. Sie sind pastoral für die Priester und anderen Mitarbeiter verantwortlich.
Mein Bischof hat mir gegenüber eine Fürsorgepflicht und ist gleichzeitig mein Vorgesetzter. Sollte es zu einem Disziplinarverfahren gegen mich kommen, ist er derjenige, der entscheidet. Das beißt sich. Meines Erachtens muss das ausgegliedert werden. Mit dem gesamten Kinderschutz- und Disziplinarbereich sollten die Bischöfe nichts mehr zu tun haben.
DOMRADIO.DE: Ist man in Deutschland oder in England weiter, was die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt anbelangt? Wie nehmen Sie diese Situation wahr?
Arens: Ich glaube, wir sind etwa auf dem gleichen Stand. In England ist das Thema nur ein paar Jahre früher hochgekocht als in Deutschland. In Deutschland war es 2010/2011. Hier waren das vielleicht fünf Jahre früher. Vieles in dem Bereich funktioniert wirklich sehr gut. Es gibt wirklich niemanden - weder Freiwillige, noch Hauptamtliche - in der Kirche, der nicht ganz klar weiß, dass man Veranstaltungen, Jugendarbeit und sonstige Kirchenarbeit sicher machen muss. Ich muss dafür sorgen, dass da nichts passieren kann.
Es gibt jedes Jahr Prozedere im August, die mich knapp eine Woche kosten. Das ist ein hoher Aufwand, aber der ist auch richtig. Ich denke, in jüngerer Zeit passiert weniger. Die Prozeduren funktionieren.
Ich sehe jedoch ein Problem in der totalen Überforderung der Bischöfe, die so viele verschiedene Aufgaben unter einen Hut kriegen müssen. Ich denke, der Bereich muss unabhängig sein und dem kirchlichen Einfluss vollkommen entzogen werden.
Wenn mein langjähriger direkter Kollege Bischof wird und mich einem Disziplinarverfahren unterziehen muss, ist direkt Persönliches mit beteiligt. Man kennt sich ja seit vielen Jahren. Eine unabhängige Institution, wie das in größeren Firmen der Fall ist, wäre da sehr viel freier und die Bischöfe könnten sich um ihre Leute kümmern.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.