Franzi von Kempis (Autorin und Unternehmensberatin): In vielen Familien, Gemeinden und Freundeskreisen gibt es Konflikte über AfD-nahe Positionen. Welche Empfehlungen geben Sie Christinnen und Christen im Umgang mit Angehörigen oder Freunden, die solche Aussagen vertreten?
Bischof Franz-Josef Overbeck (Bischof von Essen): Es zählt zu den christlichen Grundgewissheiten: Ausnahmslos jeder Mensch ist Person mit der ihr eigenen unveräußerlichen Würde. Damit ist kein Mensch hinsichtlich seiner Eigenschaften und seines Verhaltens festgelegt oder kategorisiert. Aber es ist ein Kriterium genannt, das allem individuellen und öffentlichen Handeln Orientierung und Maßstab sein muss. Wenn eine AfD-nahe Position diesem Kriterium widerspricht, kann sie nicht christlich sein.
von Kempis: Reaktionäre Christinnen und Christen sehen oft bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen wie Genderfragen kritisch oder kritisieren andere Religionen wie den Islam – Themen, die auch von der AfD besetzt werden. Was würden Sie diesen Christen und Christinnen sagen, die aufgrund solcher Themen zur AfD tendieren?
Bischof Overbeck: Die Unbarmherzigkeit, mit der manche Auseinandersetzungen unter Christinnen und Christen geführt werden, besorgt mich sehr. Insbesondere in den sogenannten sozialen Medien sind verletzende Anfeindungen und Abwertungen an der Tagesordnung, häufig getarnt im Mantel vermeintlicher Rechtgläubigkeit.
Auch wird nicht selten der Vorwurf erhoben, manche Katholikinnen und Katholiken seien nicht wirklich katholisch, weil sie z.B. bestimmte gesellschaftspolitische Positionen mit Nicht-Christinnen und Nicht-Christen teilen. Damit soll gezielt der Eindruck vermittelt werden, eine bestimmte exklusivistische und damit oft sehr extreme politische Positionierung sei notwendig, um den wahren christlichen Glauben zu schützen.
Doch Christ sein heißt nicht, politisch zu sein, um den Glauben zu schützen, sondern politisch zu sein, um den Menschen zu schützen. Wenn das Ziel dieser Anfeindungen wirklich die Verteidigung unserer Glaubensfundamente ist, dann geschieht dies unter Missachtung des Gebotes der Nächstenliebe und führt so unweigerlich zum Selbstwiderspruch.
Das lässt sich in aller Schärfe bei den Themen Lebensschutz, Familie, Geschlechtergerechtigkeit, sexuelle Vielfalt und dem Umgang mit dem Islam beobachten. Es ist kein Zufall, dass rechte Parteien diese Themen besetzen und darüber Allianzen bilden wollen.
Anstatt sich darauf einzulassen, ist es dringend geboten, diese Themen in einer Differenziertheit zu diskutieren, die ihnen jeweils angemessen ist. Für diese konstruktive Konfliktkultur werbe ich.
Auch sehe ich es als meine Pflicht an, auf diese Phänomene aufmerksam zu machen und für ein Christentum einzutreten, das Menschen in all ihrer Unterschiedlichkeit verbindet, für Ausgleich und Versöhnung eintritt und nicht zuletzt auch unsere Demokratie stärkt, die Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit sichert.
Anfang 2024 hat sich die Deutsche Bischofskonferenz klar zur AfD geäußert. Dort heißt es: “Rechtsextreme Parteien und solche, die am Rande dieser Ideologie wuchern, können für Christinnen und Christen daher kein Ort ihrer politischen Betätigung sein und sind auch nicht wählbar.”
Ebenso hat sich die evangelische Kirche (EKD) Anfang des Jahres klar gegen die AfD positioniert: “Die menschenverachtenden Haltungen und Äußerungen insbesondere der rechtsextremen Kräfte innerhalb der AfD sind mit den Grundsätzen des christlichen Glaubens in keiner Weise vereinbar.”
von Kempis: Der nächste Bundestagswahlkampf steht kurz vor der Tür: In Ihren eigenen Worten, was würden Sie Ihren Gemeindemitgliedern mit auf den Weg geben wollen, wenn wir auf steigende Umfragewerte für die AfD schauen?
Bischof Overbeck: Ich würde ihnen vor allem raten, ins Wahlprogramm der AfD zu schauen und die Inhalte, verbunden mit Aussagen der Politikerinnen und Politiker dieser Partei, ganz rational auf die Konsequenzen der Umsetzung hin zu prüfen. Aus meiner Sicht sind die Antworten der AfD auf die herausfordernden Fragen unserer Zeit bewusst unterkomplex. Allein der Versuch ihrer politischen Umsetzung hätte einen hohen Preis.
Die AfD will in erster Linie mit einer Strategie Wählerstimmen gewinnen, die darauf abzielt, systematisch das Vertrauen in unsere Demokratie und alles, was sie ausmacht, zu schwächen. Unsere Demokratie steht für Freiheit, für den Schutz der Menschenrechte und für die Sicherheit des Rechtsstaates.
Die politische wie gesellschaftliche Gewissheit, dass unsere Demokratie sowohl von rechtlichen Normen lebt, die verbindlich für alle gelten, als auch von starken sittlichen Überzeugungen, deren Unhintergehbarkeit immer wieder neu ausgewiesen werden muss, wird von der AfD leider mit zunehmendem Erfolg in Frage gestellt.
Den meisten Menschen, mit denen ich spreche, ist bewusst, dass es für einen nachhaltigen Schutz unserer Demokratie unabdingbar ist, solchen Zersetzungsstrategien entschieden entgegenzutreten und das Vertrauen in unsere politische Ordnung zu stärken.
Und dennoch müssen wir feststellen, dass autoritäre politische Kräfte an beiden Rändern weiterhin Zulauf erfahren und der gesellschaftliche Diskurs durch Falschinformationen und manipulatives Framing weiter vergiftet wird. Die Folgen sind nicht selten die systematische Entmenschlichung von Minderheiten sowie die Verherrlichung autoritärer politischer Systeme.
Hier gilt es, sehr klar und verantwortet Position zu beziehen: Das ist mit der christlichen Kernbotschaft einfach unvereinbar.
von Kempis: Welchen Beitrag kann aus Ihrer Sicht Kirche zur Stärkung der Demokratie leisten?
Bischof Overbeck: Dass wir als Kirchen unseren Beitrag zum Schutz und zur Stärkung unserer Demokratie leisten müssen und leisten wollen, haben wir in ökumenischer Verbundenheit im Jahr 2019 in einem Dokument verdeutlicht, das den Titel "Vertrauen in die Demokratie stärken“ trägt.
Dort werben wir für eine Lebenshaltung, die wir als "demokratische Sittlichkeit“ beschreiben. Darunter fassen wir insbesondere eine Haltung, die dem jeweils anderen Respekt entgegenbringt, demokratische Spielregeln anerkennt, Kompromissbereitschaft zeigt und Mehrheitsentscheidungen unabhängig von der eigenen Meinung zu akzeptieren bereit ist.
Die Verächter unserer Demokratie im In- und Ausland schwächen das Vertrauen in unsere rechtsstaatlichen Institutionen - gerade auch durch Zersetzung eines gesellschaftlichen Umfeldes, in der „demokratische Sittlichkeit“ als Haltung ausgebildet werden kann.
Dem können die Kirchen entgegenwirken; und sie tun es ja auch. So hat die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung empirisch belegt, dass sich Christinnen und Christen überdurchschnittlich häufig ehrenamtlich engagieren und die Kirchen weiterhin ein höchst relevanter Knotenpunkt zur Stärkung der Zivilgesellschaft sind. Die Kirche wird als "zur Mitarbeit einladende Institution" beschrieben.
Das ist trotz fortschreitender Säkularisierung ein hohes Gut, das wir zur Stärkung unserer Demokratie weiter einbringen werden – gemeinsam mit vielen anderen Akteuren.
von Kempis: Immer wieder liest und hört man, dass AfD-Programmatik und christlich verstandene, bzw. wertegeleiteter Politik nicht kompatibel sind. Was verstehen Sie unter wertegeleiteter Politik?
Bischof Overbeck: Die Einsicht, dass es in demokratischen Gesellschaften unabdingbare Werte gibt, die zwar unterschiedlich begründet werden, aber trotzdem in gesellschaftlichen wie politischen Diskursen für alle gelten, ist für die Grundstruktur unserer liberalen Demokratie geradezu die Geschäftsgrundlage.
Für ein gelingendes Zusammenleben reicht es uns, die Verbindlichkeit dieser Werte festzustellen – Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität etwa. In einer Gesellschaft, die durch eine extreme Pluralisierung weltanschaulicher Optionen gekennzeichnet ist, stellt es glücklicherweise praktisch kein Problem dar, dass Menschen auf der Grundlage bestimmter gemeinsamer Werte gleiche Ziele verfolgen, ohne zwangsläufig über die Fundamente dieser Werte in einen Konflikt geraten zu müssen.
Das ist wichtig für ein gesellschaftliches Klima, in dem „demokratische Sittlichkeit“ zusammen erlebt und erlernt werden kann.
Alle demokratischen Werte lassen sich letztendlich auf die Achtung der Menschenrechte zurückführen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – auf diesen ersten Worten des Grundgesetzes, in denen auch der Kerngehalt des christlichen Menschenbildes zum Ausdruck kommt, gründen alle Prinzipien und Werte, die unsere Gesellschaft ausmachen.
Das ist es, was unsere demokratische Ordnung schützt – den zur Freiheit berufenen Menschen in seiner ganzen Verletzlichkeit. Jeder politische Entwurf, der sich als demokratisch versteht, bleibt in der konkreten Ausgestaltung diesem Anspruch verpflichtet.
von Kempis: Welche Rolle kann und soll Kirche spielen, wenn es um den Kampf gegen Rechtsextremismus geht und den Einsatz gegen menschenfeindliche Positionen? Haben Sie den Eindruck, die Kirchen sind hier gut vorbereitet - auch in den Gemeinden?
Bischof Overbeck: Zunächst einmal sind die Kirchen im besonderen Maß dazu aufgerufen, wachsam zu bleiben für menschenverachtende Ideologien.
Wir müssen uns ihnen immer wieder entgegenstellen und begründet Rechenschaft darüber ablegen können, weshalb sie aus christlicher Sicht nicht tolerierbar sind und weshalb auch der vermeintlich notwendige Schutz einer "christlichen Kultur" kein Grund sein darf, andere Bevölkerungsgruppen aus der Gesellschaft ausschließen zu wollen.
Viel zu oft wird dieser Begriff von den extremen Rändern für die eigene politische Agenda missbraucht und verkommt so zu einem Zerrbild seiner wirklichen Bedeutung.
Alle selbsternannten Verteidiger einer "abendländisch-europäischen Kultur", die mit dem Ziel des Schutzes "christlicher Werte" grundlegende Freiheitsrechte, wie z.B. das Recht auf Religionsfreiheit, einschränken wollen, bekämpfen im Kern das, was sie doch eigentlich vorgeben, zu verteidigen: Das Christentum und die europäische Kultur.
Vor diesem Hintergrund denke ich schon, dass die Kirchen hier in Deutschland mit Blick auf ihre Positionsbestimmung sehr klar sind.
Hinweis
Das Interview führte Franzi von Kempis für ihren Newsletter Adé AfD. DOMRADIO.DE veröffentlicht das Gespräch mit freundlicher Genehmigung.
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