DOMRADIO.DE: Vor fünf Jahren gab es den Corona-Lockdown. Geschäfte, Schulen, Kitas und auch Kirchen waren dicht. War die Kirche zu vorsichtig? Hat sie zu voreilig Gotteshäuser geschlossen und keine Gottesdienste mehr gefeiert?

Bischof Heiner Wilmer (Bischof von Hildesheim): Dass heute viele kritisch zurückblicken, kann ich verstehen. Aber es ist natürlich leicht, im Nachgang schlau zu sein. Zunächst einmal bin ich den Politikerinnen und Politikern und auch den vielen Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen sehr dankbar, die die Ärmel hochgekrempelt und etwas getan haben. Sie haben aus der Not eine Tugend gemacht.
Im Nachhinein bin ich dankbar für viele in der Politik, in der Gesellschaft, in den Krankenhäusern, in Altenheimen und pädagogischen Einrichtungen.
DOMRADIO.DE: Trotzdem gibt es den Vorwurf, dass die Kirche nicht nahe genug dran gewesen sei an den Menschen. Viele alte und sterbende Menschen waren sehr einsam. Hätte die Kirche aktiver sein müssen?
Wilmer: Den Vorwurf gibt es, ich habe ihn auch gehört. Ich glaube schon, dass wir sehr viele Seelsorgerinnen und Seelsorger hatten, die in den Altenheimen bei den alten Menschen und auch in den Krankenhäusern waren.
Dennoch belastet mich persönlich sehr, dass es Situationen gegeben hat, in denen die Großmutter sterben musste, ohne die Enkel zu sehen, weil man sie abgewehrt hat. Das finde ich nach wie vor erschütternd.
DOMRADIO.DE: Corona war auch ein Spaltpilz für die Gesellschaft, in Familien, unter Kollegen, unter Freunden. Das hat unserer Gesellschaft geschadet.
Wilmer: Bitter finde ich, wie die Geschichte von Corona uns fast zu neuen Ideologien geführt hat. Als gäbe es ein Lager, dass Impfungen betont, während ein Lager dagegen ist - mit Begründungen, die zum Teil irrational sind, die auch ins Pseudoreligiöse führen. Das war nicht gut.
DOMRADIO.DE: Corona hatte Folgen auch für die Kirchen, zum Beispiel lag die Messdienerarbeit still. Sind die Messdiener wieder zurückgekommen? Welche Konsequenzen hat Corona bis heute?
Wilmer: Ich bin ein alter Pädagoge, war lange in Schulen tätig, verschiedener Couleur, auf allen Ebenen. Ich glaube, dass der größte Schaden bei der jungen Generation entstanden ist. Ich kenne so viele Jugendliche, auch junge Studierende, die alleine in ihren Wohnungen waren, am Computer, ohne Kontakte zu Kommilitonen. Es gab keine neuen Freundschaften.
Schlimm finde ich auch, dass junge Menschen, die damals in der Pubertät waren, sich zu Hause wie eingeschlossen fühlten. Da werden wir sicherlich noch an den Folgen zu arbeiten haben.
DOMRADIO.DE: In den Corona-Zeiten war auch die Frage in der Diskussion, wie systemrelevant die Kirche ist. Es sind so viele Leute aus der Kirche ausgetreten wie in den Jahren zuvor nicht. Wie erklärt sich das?
Wilmer: Ich halte die Kirche für absolut systemrelevant, weil die Kirche vielleicht der einzige öffentliche Ort ist, in dem Begriffe wie Barmherzigkeit, Gnade, Nächstenliebe geschützt sind. Es ist der einzige Raum, wo wir öffentlich weinen dürfen, der einzige Raum, wo Trauer geschützt wird. Deshalb halte ich die Kirchen für systemrelevant, weil es um unser Herz geht, nicht nur um den Verstand.
DOMRADIO.DE: Was können wir heute aus der Corona-Pandemie im Rückblick auf die fünf Jahre lernen?
Wilmer: Ich bin kein Besserwisser und es steht mir auch nicht an, große Lernergebnisse vorzutragen. Das möchte ich lieber anderen überlassen. Was ich persönlich daraus lerne, ist, dass ich stärker auf mein Herz höre und gegebenenfalls mutiger sein könnte.
Das Interview führte Johannes Schröer.