Wo immer Carolina Ribera Anez öffentlich auftritt, trägt sie ein T-Shirt mit dem Bild ihrer inhaftierten Mutter, Jeanine Anez (57). Seit März 2021 ist die ehemalige Übergangspräsidentin in Bolivien im Gefängnis, im Juni 2022 wurde Anez wegen Pflichtverletzung sowie verfassungs- und gesetzeswidriger Beschlüsse zu zehn Jahren Haft verurteilt.

Das Urteil löste internationale Proteste aus. "Das Justizsystem wird "zunehmend von der Regierungspartei kontrolliert", sagt Ribera im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Dazu zähle auch die Praxis, dass die "Prozesse" gegen die Angehörigen von "politischen Gefangenen" angestrebt werden - mit erfundenen Vorwürfen.
Justizsystem für die Mächtigen
"Das bolivianische Justizsystem wurde in der Vergangenheit immer wieder ausgenutzt, um den "Interessen der herrschenden politischen Macht" entgegenzukommen, hatte die Interamerikanische Menschenrechtskommission nach einem Besuch im März 2023 festgestellt.
Präsident Luis Arce habe sein Versprechen einer Justizreform, die das System von der Politik unabhängig machen soll, nicht eingehalten, heißt es in einer Bewertung der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.
Die Hintergründe liegen schon über fünf Jahre zurück: Bolivien wurde nach der Präsidentenwahl im Oktober 2019 von heftigen Unruhen erschüttert. Schon die erneute Kandidatur des damaligen Präsidenten Evo Morales war nach einem verloren gegangenen Referendum über eine dazu notwendige Verfassungsänderung hoch umstritten. Morales brach sein Wort und setzte seine Kandidatur gegen das Wählervotum auf juristischem Wege durch. Nach der Wahl 2019 warf die Opposition dem seit 2006 regierenden sozialistischen Präsidenten Betrug vor, Hunderttausende gingen auf die Straße. Morales bestand zunächst auf einen Sieg im ersten Durchgang.
Eine Kommission der Organisation Amerikanischer Staaten sprach in einem Abschlussbericht von schwerwiegenden Manipulationsversuchen und empfahl Neuwahlen. Auch Beobachter in Bolivien kamen zu diesem Schluss. Morales trat auf Druck aus Reihen regierungsnaher Gewerkschaften, der Ombudsstelle des bolivianischen Volkes, der Armee und der Polizei zurück. Zunächst ging er nach Mexiko und später nach Argentinien ins Exil.
Parteifreunde werden erbitterte Feinde
Morales' Parteifreund Luis Arce gewann die von Jeanine Anez organisierten Neuwahlen anschließend deutlich. Morales sprach von einem Putschversuch. Anez wurde vorgeworfen, sich zu Unrecht zur Übergangspräsidentin ernannt zu haben. Inzwischen sind die ehemaligen Parteifreunde Morales und Arce erbitterte innenpolitische Feinde, und Morales' Glaubwürdigkeit steht auch im eigenen Lager in Zweifel.

Anders als im Fall Anez wurde gegen Morales, der damals blutige Proteste anheizte, nie wegen Mitverantwortung ermittelt. Human Rights Watch verweist auch auf einen weiteren Fall: Im Dezember 2022 sei der Gouverneur von Santa Cruz, Luis Fernando Camacho, wegen Terrorismusverdachts inhaftiert worden. Camacho wurde beschuldigt, 2019 Beihilfe zu einem "erzwungenen" Rücktritt des damaligen Präsidenten Morales geleistet zu haben. Human Rights Watch überprüfte nach eigenen Angaben die Anklageschrift und fand keine Belege für den Terrorismusvorwurf.
Kirche mahnt - und erlebt Repressalien
Auch gegen die katholische Kirche wird ermittelt. Sie gehört zu den Stimmen, die die Regierung an die Bedeutung der Gewaltenteilung erinnert. Im April 2024 durchsuchten Beamte das Haus des aus Deutschland stammenden früheren Bischofs von San Ignacio de Velasco, Bischof Carlos (Karl) Stetter. Es bestehe ein Anfangsverdacht von Geldwäsche.
Das Bistum stellte sich zwar hinter Stetter und erklärte, der damals 83-Jährige sei Opfer eines missbräuchlichen Vorgehens der Ermittlungsbehörden geworden. Doch die Meldung war bereits in der Welt, Stetters Ruf beschädigt. Die zuständige Staatsanwaltschaft warf derm Bistum Ignoranz und Voreingenommenheit vor. Inzwischen sind auch diese Vorwürfe widerlegt. Was bleibt: Bitterkeit über eine Justiz, die zu einem Machtinstrument der Regierung geworden ist.