DOMRADIO.DE: Herr Kaplan Neuhoff, als Priester des Neokatechumenalen Weges sind Sie international vernetzt und haben von daher im März 2020 schon früh die verstörenden Nachrichten aus Italien eingeordnet – bevor die Bilder aus Bergamo mit den zahlreichen Leichentransporten in Militärfahrzeugen wenige Tage später dann um die Welt gingen. Was haben Sie gedacht, als Sie begriffen haben, dass diese Meldungen alarmierende Warnsignale von weltweiter Dimension sind?

Clemens Neuhoff (Kaplan in der katholischen Pfarreiengemeinschaft Kaarst/Büttgen): Über meine Kontakte nach Italien hatte ich zwar immer wieder gehört, dass der eine oder andere Mitbruder an Covid-19 erkrankt war oder dass es einen Corona-Ausbruch in manchem Priesterseminar gegeben hat. Aber welches lebensbedrohliche Ausmaß das schon wenig später annehmen würde, war trotzdem zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Dennoch waren das Schocknachrichten, wie sich überhaupt die gesamte Nachrichtenlage allmählich zuspitzte und jeden Tag beängstigender wurde. Was zunächst in Südeuropa begann, verlagerte sich immer mehr nach Norden. Die erschreckenden Bilder aus Bergamo, die mich sehr bewegt haben, waren dann vorerst der Höhepunkt. Aber sie sorgten eben auch dafür, dass ich da – wie andere auch – ein richtige Welle auf uns zukommen sah. Von daher habe ich schon früh erste Überlegungen angestellt, was ich denn tun würde, wenn es bei uns zu einem Lockdown kommen würde. Entsprechend habe ich technische Vorbereitungen getroffen, eine Webcam gekauft und auch für meine damalige Bensberg-Moitzfelder Kirchengemeinde, in der ich zu der Zeit als Praktikant war, einen Youtube-Kanal eingerichtet, um gegebenenfalls von einem auf den anderen Tag auf Streaming-Formate umsteigen zu können.
Als dann tatsächlich am 14. März der Lockdown begann, war es trotzdem unwirklich und ein Schock. Es gab den totalen Stillstand, und mir war sofort der Ernst der Lage bewusst, auch wenn man die Tragweite und Auswirkungen auf das eigene Leben in der gesamten Dimension nicht wirklich absehen konnte, da es so etwas ja noch nie zuvor gegeben hatte, es keinerlei Erfahrungswerte gab. Und wie sehr dieser Lockdown dann auch auf das kirchliche Leben Einfluss nehmen würde, war zu diesem Zeitpunkt ebenfalls nicht im Entferntesten abzuschätzen.

DOMRADIO.DE: Am besagten 14. März kam aus dem Generalvikariat die Anweisung, bereits die Sonntagsgottesdienste am nächsten Tag bis auf Weiteres auszusetzen und die Versammlung von Kirchenbesuchern zu verbieten. Rückgekoppelt war diese Entscheidung an die NRW-Staatskanzlei. St. Nikolaus in Bensberg traf das besonders hart, weil an diesem Sonntag alle Chöre am Ort eine festliche Messe gestalten sollten, die dann trotz großer Vorfreude ausfallen musste. Wie kamen Sie auf die Idee, den Menschen am Ort alternativ einen digitalen Gottesdienst anzubieten?
Neuhoff: In der Tat waren wir schon zwei Tage später, am Montagmorgen – auf den Tag heute vor fünf Jahren – mit unserer 7 Uhr-Messe live "auf Sendung". Wie gesagt, ich hatte mich schon früh mit der Option einer Übertragung beschäftigt, so dass es da bereits Vorüberlegungen gab, als ich mitbekommen hatte, was sich in Italien abspielte. Ich sehe mich noch zwei, drei Tage vorher am Schreibtisch sitzen und ausprobieren, wie solche Streaming-Formate überhaupt funktionieren, was es bei der Tontechnik zu beachten gilt, bei der Kameraeinstellung etc. Ich musste mich da regelrecht reinfuchsen, zumal da noch ein Programm zwischengeschaltet werden musste. Alles war recht kompliziert. Inzwischen ist die Technik ja professionalisiert worden und viel benutzerfreundlicher.
Pfarrer Andreas Süß und ich waren der Meinung, dass es das Mindeste ist, was wir als Gemeinde tun können, dass wir mit den Menschen über Gottesdienste verbunden bleiben, wenn schon sonst nichts ging und das soziale Leben auf Null heruntergefahren wurde. Rückblickend hatten wir zunächst wirklich eine furchtbare Bildqualität und einen grottigen Sound, aber man konnte alles erkennen und alles verstehen. Das war das Wichtigste. Und so haben wir am selben Tag dann gleich auch noch das Abendgebet gestreamt. Das sollte dann für die folgenden Monate der Rhythmus bleiben, in dem wir uns mit den Menschen an ihren Bildschirmen zuhause verbunden haben: jeden Tag eine heilige Messe in der Frühe und jeden Abend ein Gebet, das so ein wenig den Charakter von "Nightfever" hatte.
DOMRADIO.DE: Welches pastorale Anliegen stand dahinter?

Neuhoff: Wir wollten unbedingt die Verbindung zu den Menschen halten. Hinzu kam, dass ich ganz konkret die Gesichter von den Menschen vor Augen hatte, die sich jeden Tag in der Frühmesse versammeln und denen diese Feier ganz viel bedeutet. Ich habe mich gefragt, wie können wir an ihnen einen Dienst tun, damit weiterhin ein Stück Verbundenheit zum Ausdruck kommt – und wenn auch nur auf digitalem Weg. Später kam die Überlegung dazu, auch eine Form der Kommunikation zu ermöglichen – innerhalb eines Chats, in den während der Messe schriftlich Fürbitten eingebracht werden konnten – damit das keine Einbahnstraße blieb.
DOMRADIO.DE: Es stellte sich schnell heraus, dass sich dieses "In-Verbindung-Sein zur eigenen Gemeinde in der Zeit der totalen Isolation zuhause für viele Gläubige als überlebenswichtig erwies, gerade auch für die ältere Generation, die als besonders vulnerabel galt. Für sie bedeuteten die Streaming-Gottesdienste den letzten Rest gesellschaftlicher Teilhabe. Wie schauen Sie heute auf dieses Angebot, das dann auch über das Erzbistum weiter verbreitet wurde und heute aus vielen Gemeinden, die sich von diesem Bensberger Pionierprojekt haben inspirieren lassen, als zusätzliches Instrument der Verkündigung nicht mehr wegzudenken ist?

Neuhoff: Rückblickend war das sicher die richtige Initiative zur rechten Zeit. Noch heute bin ich sehr dankbar dafür, dass das möglich war, und auch erstaunt, wie schnell wir das auf die Beine gestellt haben. Irgendwie habe ich den Eindruck, da hat der liebe Gott das richtige Team an den richtigen Ort gestellt: einen technikaffinen Praktikanten, Pfarrer Süß, der sowieso ein Faible für kommunikative Experimente dieser Art hat, Pastoralreferentin Violetta Gerlach, die Angebote für Kinder und Familien gemacht hat, und Praktikantin Carola Nussbaum, die wunderbar Klavier spielt und von daher bei den Messen und Abendgebeten die Lieder begleiten konnte. Da hatten sich also die vier Richtigen gefunden, was eine regelrechte Fügung war.
In einem nächsten Schritt habe ich dann noch ein "Stream-Team" zusammengestellt und in die Technik eingearbeitet; junge Leute, darunter ein Firmand und ein Familienvater, so dass nicht nur immer ich am Mischpult sitzen musste, sondern wir aus einem personellen Fundus schöpfen konnten, jeder mal zuständig war und die technische Verantwortung übernommen hat. Für einen begrenzten Zeitraum war das eine tolle Sache. An manchen Orten – wie Bensberg – ist dieses Angebot etwa zwei Jahre später wieder eingeschlafen, als Gottesdienste in Präsenz schon lange wieder möglich waren. An anderen besteht es bis heute. Das hängt natürlich auch von der konkreten Gemeinde und dem jeweiligen Pfarrer ab – zum Beispiel davon, ob er auch eine gewisse Medienaffinität hat oder selbst gerne vor der Kamera steht. Das will ja noch lange nicht jeder. Außerdem ist es natürlich so, dass ein gestreamter Gottesdienst niemals die Präsenz in der Kirche und die konkrete Mitfeier der Liturgie ersetzen kann. Aber in der Pandemie haben Streaming-Gottesdienste zweifelsohne den Menschen einen wertvollen Dienst erwiesen.
DOMRADIO.DE: Zu der Erfolgsgeschichte der Streaming-Gottesdienste in Bensberg gehört auch, dass EWTN, der weltweit größte religiöse Fernsehsender, schon bald auf Sie und Ihr Amateur-Team aufmerksam wurde. Im Rückblick sicher ein Glücksfall, oder?
Neuhoff: Klar, das war eine super Chance. EWTN bot uns sein hochprofessionelles Kamera-Equipment und Mischpult im Tausch für die Übertragung am Sonntagabend aus der Bensberger Pfarrkirche St. Nikolaus an, so dass die Sonntagabendmesse in das Programm von EWTN aufgenommen wurde und vom Bergischen Land dann über einen längeren Zeitraum in die ganze Welt ging. Der Sender suchte nach Gottesdiensten an verschiedenen Orten, um sie einem breiten Publikum zugänglich machen zu können. Das war unser Deal. Die Zusammenarbeit mit EWTN war sehr unkompliziert. Unsere Übertragungsqualität wurde mit dieser hochwertigen Ausrüstung schlagartig besser, so dass man in der Tat von einem Glücksfall sprechen kann, für den ich heute noch dankbar bin.

DOMRADIO.DE: Zu der Entwicklung dieses Projektes gehörten später auch Überlegungen – Sie erwähnten es schon – interaktive Elemente wie Fürbitten einzubauen, die während der Gottesdienstfeier dann vorgelesen werden konnten. Das ganze System wurde im Laufe der Monate immer mehr verfeinert und perfektioniert. Wenn Sie heute auf fünf Jahre Live-Übertragungen zurückschauen, was hat uns Corona gelehrt?
Neuhoff: Dass wir als Kirche eine gewisse Flexibilität brauchen, wie sie uns in vielen anderen Bereichen leider im Moment abhanden gekommen ist: einfach schnell und unkompliziert, auch kurzfristig etwas komplett umzustellen, um dann neu auf das jeweilige Bedürfnis der Menschen zu schauen. Es gab einen Lockdown, und die Menschen wollten trotzdem an einer Sonntagmesse teilnehmen, oder aber sie sehnten sich nach einem Ort, an dem sie beten konnten. Uns ist es dann gelungen, sie zu beteiligen, was sicher essentiell in dieser Krise war.
Und noch ein Zweites: Corona hat gezeigt, dass die Kirche nach wie vor – gerade in Krisenzeiten, wenn Menschen in Not sind oder einsam – gefragt ist. Wo sonst sollen sie denn hin? In unserer Gesellschaft wird immer weniger über Not und Leid gesprochen, von daher finden Menschen, die wirklich Hilfe brauchen, hier oftmals keine Antworten. Ich bin aber zutiefst davon überzeugt, dass wir gerade als Kirche eine Antwort haben, nicht immer eine Lösung, aber doch Antworten. Und die wollten wir durch die Streaming-Angebote zu den Menschen bringen.
Als Christen haben wir seit über 2000 Jahren die beste Botschaft der Welt. Die Herausforderung besteht darin, an dieser Botschaft nicht irgendwie herumzuschnippeln, um sie zu verändern oder zu verkleinern, sondern unsere Aufgabe ist, sie zu den Menschen zu bringen – und zwar so, wie sie sie verstehen können und gerade brauchen. Auch in Corona war das die große Frage: Wie bekommen wir das hin, diese Megabotschaft trotz widriger Umstände zu den Menschen zu bringen?
Wir befinden uns in der Fastenzeit, gehen auf Ostern zu und haben doch diese wunderbare Botschaft vom Sieg über den Tod. Auch ganz aktuell geht es also darum, wie diese Top-Nachricht die Menschen erreicht, um sie heil zu machen. Pandemie oder nicht – dieser Auftrag geht an uns alle, jeden Einzelnen, zu jeder Zeit. Und da muss sich auch die Kirche immer wieder hinterfragen.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.